Dorit Zinn, Foto: Claus Völker
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Leseprobe: Nur seinetwegen

"Ich bin nur deinetwegen hier!" Er kommt aus dem Bad, ein weißes Frotteehandtuch um die Hüften geschlungen, bleibt in der Mitte des Zimmers stehen. "Nur deinetwegen!" trompetet er. Dann löscht er das Licht, sperrt die Fenster weit auf, läßt sich schwer neben sie aufs Bett fallen.
Mascha zieht die Decke fest bis unter das Kinn. "Nur meinetwegen?" kichert sie.
Kühle Nachtluft bewegt die Vorhänge, weit unten summt die Stadt, ab und zu wehen Lautsprecherfetzen die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge herüber. Er dreht sich auf die Seite, stützt den runden Schädel auf den angewinkelten Arm, das Frotteehandtuch rutscht herab. Mascha starrt auf seinen fetten Leib, auf seine Halbglatze, überlegt, wo das Licht herkommt, das sich dort oben spiegelt.
"Nur meinetwegen. ..". Sie lächelt und hält die Decke fest. Unter großen Mühen hatte sie ihren Dienst getauscht, war im Nachtzug von Moskau nach Kiew gefahren, um ihn wiederzusehen. Da war das gleichmäßige Rattern des Zuges gewesen, die träge Lust auf der Pritsche, die ganze Unruhe ihres Körpers, Freude und Angst.
Hart greift er ihre Haare im Nacken, hart preßt er sie an sich. So doch nicht, denkt sie, in meinen Träumen war es anders. "Sei zärtlich", sagt sie und reibt sein Ohrläppchen zwischen ihren Fingern. Schon am Morgen auf dem Bahnsteig war seine Umarmung fremd gewesen und fremd auch sein Geruch. Und er hatte gleich mit ihr schlafen wollen, hatte direkt neben dem Bahnhof ein Hotel genommen. "Heute abend", wehrte sie ihn ab, "heute nacht, mein Täubchen. Ich muß Dich erst wieder riechen und schmecken lernen." Geschäftig wühlte sie in ihrer Reisetasche. "Zeig mir Kiew, das macht mich froh."
Sie waren zum Dnjepr gelaufen, hatten Billette für ein Dampfschiff gelöst, um zwei lange Stunden über den Fluß zu fahren. Und der Fluß war so breit gewesen, die Ufer so sanft, da hatte sie ihn wieder gemocht. Fast so wie früher während des Studiums. Das war lange her.
"Reib weiter", schnauft er, seine Zunge fährt über ihr Gesicht. Sie bewegt wieder das Ohrläppchen zwischen ihren Fingern. Das Mittagessen, überlegt sie, das war nicht schlecht. Kaviar, frische Gemüse, Filetspitzen mit Pilzen, Südfrüchte, wann hatte sie das letzte Mal so gut gegessen? Sie seufzt zufrieden. So ein Essen schafft er mit seinen guten Beziehungen zu den Kooperativen. Er hat in dieser schlechten Zeit überhaupt alles, während sie ihre Zuckermarken, für Weihnachten zugeteilt, schon jetzt, im Oktober, für Zigaretten verschwendet.
"Komm, sei lieb Maschalein." Sein Körper wälzt sich heran. Er wird mich erdrücken! Schnell fährt sie auf, sucht nach den Zigaretten, schiebt sich erleichtert eine zwischen die Lippen. Er ist vor ihr auf die Knie gerutscht. "Es war doch abgemacht!" Mit beleidigtem Jungengesicht schaut er sie an.
Ich muß verrückt sein, gierig saugt sie an der Zigarette, total verrückt. "Täubchen", sagt sie endlich, will ihrer Stimme Weichheit geben, "mein alter Täuberich." Sie streckt das Bein, kratzt mit den Zehen seine haarige Brust. "Heute Nachmittag, in den Kathedralen, bei den Mönchen, das war schön." Ihre Zehen umkreisen seinen Nabel. "Ich habe unter dem Kronleuchter die Strahlung genau gespürt." Sie drückt den Handteller flach auf ihren Scheitel. "Ich spüre es immer noch, warme Ströme sind es, eine unglaublich starke Energie."
"Aberglauben, nichts als Aberglauben", knurrt er, greift ihre Zigarette, wirft sie auf den Teppich. "Komm jetzt, ich habe dir genug davon mitgebracht, zwei Stangen, Wurst und Hähnchen auch." "Danke", sagt sie und schiebt ihren Fuß unter seine Achsel. "Die Mumien der Mönche, unten in den Höhlen, die haben mir gefallen." Sie lacht. "Ich hatte solche Angst, daß meine Kerze erlischt." Er beugt sich vor und versucht, ihre Brüste zu streicheln. "Angst? Weshalb hattest Du Angst?"
Sie wehrt seine Hände ab. "Daß meine Wünsche nicht in Erfüllung gehen."
Ganz nah ist er wieder. "Was wünscht sich denn meine kleine Mascha?"
"Von Dir? Ein Auto!", ruft sie und lacht grell.
Und sie verrät ihm nichts. Nichts von den drei Kastanien. Sie hatte die glatten, braunen Früchte in den Händen gehalten, sie beschwörend gerieben, und als sie auf dem Rückweg aus der Kathedrale durch das Portal liefen, durch das Portal, in dem man nicht stolpern durfte, da hatte sie die Kastanien trotzig auf das Pflaster geschleudert. Die erste hüpfte nach rechts mit dem Wunsch, daß es ihrer Familie gut gehen sollte. Die zweite sauste durch die Mitte des Portals, beladen mit Glück im Beruf. Die dritte schoß in Zickzacksprüngen nach links, leidenschaftlich und liebestoll. Für Mischa!
Sie zieht ihren Fuß aus seiner Achselhöhle. Mischa! Ob er jetzt in Moskau vor ihrer Wohnung steht? Sie läuft zum offenen Fenster.
"Du bist noch schöner geworden, Mascha." Wehmütig tropfen seine Komplimente in den dunklen Raum. Im blauschwarzen Fensterglas spiegelt sich ihr weißer Körper. Geräusche von spritzendem Wasser dringen herauf. Sie schaut hinab auf den Platz vor dem Hotel. Zwei Wagen der Stadtreinigung sprengen die Straßen ab, fahren hinüber zum Bahnhof, Schaumflocken stieben durch die Luft. Sie beugt sich hinaus. "Komm mal, da unten schäumt's, wie in einem
Wäschetrog."
Ihm gelingt ein jugendlicher Schwung aus dem Bett. Sein hastiger Atem in ihrem Nacken, das war schon einmal so. Aus dem Schaum wird Schneegestöber. Damals im Winter, auf dem Schlitten, da hatten sie sich geliebt.
Er beißt ihr in den Nacken. "Jeden Tag seifen sie hier die Straßen ab. Du weißt doch. Tschernobyl." Er versucht, ihren Zopf zu öffnen, zieht sie zurück aufs Bett.
"Ein Glück, daß Moskau so weit weg ist", sagt sie.
"Ein Glück, daß du so nah bist", sagt er und gräbt sein Gesicht in ihr Haar. Dann wirft er sich auf den Rücken. "Steig auf Mascha, komm!"
"Ich kann nicht", murmelt sie, "nicht so schnell."
"Denk an früher", lockt er.
Verloren besteigt sie seine Mitte. Sie spürt sein weiches, wabbeliges Fleisch und will nicht an früher denken. Sie denkt an Mischa. Ihre Schenkel reiben Lenden, ihre Fingerspitzen zwirbeln Brustwarzen. Langsam steigt Lust in ihr auf. Sie schließt die Augen - da sind die Bilder schon da. Mischa mit der Kamera in der Nähe des Roten Platzes, wie er die Obdachlosen fotografiert. Sie auf dem Weg zum Kaufhaus Gum, auf der Suche nach Lebensmitteln, vielleicht ein paar neuen Schuhen, da kommt ihr dieser freche Blick in die Quere. Sie muß stehenbleiben, will sich nicht wehren. Später dann in der Metro, seine Hand in ihrer Bluse, und sie genießt die kühne Schamlosigkeit, will, daß es kein Ende nimmt.
"Mascha, ich liebe dich immer noch", ächzt es unter ihr.
"Sei still", faucht sie, "ich muß mich konzentrieren." Da ist der Abend, als sie mit Mischa aufs Land hinausfährt, wie sie durchs Dorf laufen, alle paar Meter stehenbleiben, in Küssen ertrinken, wie Mischa sie auszieht, einfach so, auf der Straße, Stück für Stück, und sie schämt sich wieder nicht, ist wie toll vor Lust.
"Ich werde mich von meiner Frau trennen", stöhnt er.
"Ja, ja", lacht Mascha. Und da ist sie mit Mischa vor dem Scheunentor, wie er sie streichelt und leckt, und plötzlich das greise Bauernpaar vor dem Gehöft, starr vor Staunen. Mischa wirft seinen Mantel über Mascha, zwei ertappte Kinder, die davonstürmen, hinter einer Mauer wieder übereinander herfallen und selbst dann noch weiter küssen, als Mischa pinkelt.
"Ich muß nach Moskau!" Mascha löst sich abrupt. Sie läuft ins Bad, dreht die Dusche auf, so weit es geht, durch das Prasseln des Wassers dringt die wütende Stimme des Jugendfreundes. "Früher warst du nicht frigide!"
Sie bleibt unter der Dusche, lange, bis ihre Haut glüht, und noch länger, bis ihre Fingerkuppen rubbelig wie in Kindertagen sind.
Als sie aus dem Bad kommt, schläft er fest. Sie geht ans Fenster, es hat zu regnen begonnen. Dicke Tropfen spritzen auf das Pflaster. Aus dem Bahnhofsgebäude gegenüber dringt trübes Licht, weit hinten verschwinden die Gleise, schwarz glänzende, nasse Schlangen. Der Regen wird stärker, pladdert durch die alten Bäume vor dem Hotel. "Wenn jetzt eine Kastanie herunterfällt", flüstert Mascha, "dann wünsch ich mir wieder etwas." Es lösen sich gleich mehrere Früchte vorn Baum, auf dem Asphalt platzen die stachligen Schalen, frischlackierte Kugeln tanzen in den schäumenden Rinnstein.
Als Mascha aufwacht, ist er fort. Er ist gegangen, ohne eine Zeile zu hinterlassen. Die Zigarettenstangen liegen auf der Konsole. Während sie sich die Haare bürstet, entdeckt sie unter dem Waschbecken im Abfalleimer Würste und Hähnchenschenkel übereinandergetürmt. Sie beugt sich tief über den Eimer: Nackte, gelbweiße, auch rosa-bläulich schimmernde Schenkel...
Endlich kann sie sich übergeben. Erleichtert bindet sie ihren Zopf, streift das wollene Kleid über. Sie hat nicht mehr viel Zeit, in dreißig Minuten fährt der Zug nach Moskau. Sie greift die Zigaretten. Mischa raucht viel. Heute Abend wird sie bei ihm sein. Schon in der Tür, kehrt sie nochmals ins Zimmer zurück, fischt aus der Handtasche ihren Lippenstift. Hastige Krakel quer über den blinden Spiegel der Konsole: Nur seinetwegen!

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