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Leseprobe:
Nur seinetwegen
"Ich bin nur
deinetwegen hier!" Er kommt aus dem Bad, ein weißes Frotteehandtuch
um die Hüften geschlungen, bleibt in der Mitte des Zimmers stehen.
"Nur deinetwegen!" trompetet er. Dann löscht er das Licht,
sperrt die Fenster weit auf, läßt sich schwer neben sie aufs
Bett fallen.
Mascha zieht die Decke fest bis unter das Kinn. "Nur meinetwegen?"
kichert sie.
Kühle Nachtluft bewegt die Vorhänge, weit unten summt die Stadt,
ab und zu wehen Lautsprecherfetzen die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der
Züge herüber. Er dreht sich auf die Seite, stützt den runden
Schädel auf den angewinkelten Arm, das Frotteehandtuch rutscht herab.
Mascha starrt auf seinen fetten Leib, auf seine Halbglatze, überlegt,
wo das Licht herkommt, das sich dort oben spiegelt.
"Nur meinetwegen. ..". Sie lächelt und hält die Decke
fest. Unter großen Mühen hatte sie ihren Dienst getauscht,
war im Nachtzug von Moskau nach Kiew gefahren, um ihn wiederzusehen. Da
war das gleichmäßige Rattern des Zuges gewesen, die träge
Lust auf der Pritsche, die ganze Unruhe ihres Körpers, Freude und
Angst.
Hart greift er ihre Haare im Nacken, hart preßt er sie an sich.
So doch nicht, denkt sie, in meinen Träumen war es anders. "Sei
zärtlich", sagt sie und reibt sein Ohrläppchen zwischen
ihren Fingern. Schon am Morgen auf dem Bahnsteig war seine Umarmung fremd
gewesen und fremd auch sein Geruch. Und er hatte gleich mit ihr schlafen
wollen, hatte direkt neben dem Bahnhof ein Hotel genommen. "Heute
abend", wehrte sie ihn ab, "heute nacht, mein Täubchen.
Ich muß Dich erst wieder riechen und schmecken lernen." Geschäftig
wühlte sie in ihrer Reisetasche. "Zeig mir Kiew, das macht mich
froh."
Sie waren zum Dnjepr gelaufen, hatten Billette für ein Dampfschiff
gelöst, um zwei lange Stunden über den Fluß zu fahren.
Und der Fluß war so breit gewesen, die Ufer so sanft, da hatte sie
ihn wieder gemocht. Fast so wie früher während des Studiums.
Das war lange her.
"Reib weiter", schnauft er, seine Zunge fährt über
ihr Gesicht. Sie bewegt wieder das Ohrläppchen zwischen ihren Fingern.
Das Mittagessen, überlegt sie, das war nicht schlecht. Kaviar, frische
Gemüse, Filetspitzen mit Pilzen, Südfrüchte, wann hatte
sie das letzte Mal so gut gegessen? Sie seufzt zufrieden. So ein Essen
schafft er mit seinen guten Beziehungen zu den Kooperativen. Er hat in
dieser schlechten Zeit überhaupt alles, während sie ihre Zuckermarken,
für Weihnachten zugeteilt, schon jetzt, im Oktober, für Zigaretten
verschwendet.
"Komm, sei lieb Maschalein." Sein Körper wälzt sich
heran. Er wird mich erdrücken! Schnell fährt sie auf, sucht
nach den Zigaretten, schiebt sich erleichtert eine zwischen die Lippen.
Er ist vor ihr auf die Knie gerutscht. "Es war doch abgemacht!"
Mit beleidigtem Jungengesicht schaut er sie an.
Ich muß verrückt sein, gierig saugt sie an der Zigarette, total
verrückt. "Täubchen", sagt sie endlich, will ihrer
Stimme Weichheit geben, "mein alter Täuberich." Sie streckt
das Bein, kratzt mit den Zehen seine haarige Brust. "Heute Nachmittag,
in den Kathedralen, bei den Mönchen, das war schön." Ihre
Zehen umkreisen seinen Nabel. "Ich habe unter dem Kronleuchter die
Strahlung genau gespürt." Sie drückt den Handteller flach
auf ihren Scheitel. "Ich spüre es immer noch, warme Ströme
sind es, eine unglaublich starke Energie."
"Aberglauben, nichts als Aberglauben", knurrt er, greift ihre
Zigarette, wirft sie auf den Teppich. "Komm jetzt, ich habe dir genug
davon mitgebracht, zwei Stangen, Wurst und Hähnchen auch." "Danke",
sagt sie und schiebt ihren Fuß unter seine Achsel. "Die Mumien
der Mönche, unten in den Höhlen, die haben mir gefallen."
Sie lacht. "Ich hatte solche Angst, daß meine Kerze erlischt."
Er beugt sich vor und versucht, ihre Brüste zu streicheln. "Angst?
Weshalb hattest Du Angst?"
Sie wehrt seine Hände ab. "Daß meine Wünsche nicht
in Erfüllung gehen."
Ganz nah ist er wieder. "Was wünscht sich denn meine kleine
Mascha?"
"Von Dir? Ein Auto!", ruft sie und lacht grell.
Und sie verrät ihm nichts. Nichts von den drei Kastanien. Sie hatte
die glatten, braunen Früchte in den Händen gehalten, sie beschwörend
gerieben, und als sie auf dem Rückweg aus der Kathedrale durch das
Portal liefen, durch das Portal, in dem man nicht stolpern durfte, da
hatte sie die Kastanien trotzig auf das Pflaster geschleudert. Die erste
hüpfte nach rechts mit dem Wunsch, daß es ihrer Familie gut
gehen sollte. Die zweite sauste durch die Mitte des Portals, beladen mit
Glück im Beruf. Die dritte schoß in Zickzacksprüngen nach
links, leidenschaftlich und liebestoll. Für Mischa!
Sie zieht ihren Fuß aus seiner Achselhöhle. Mischa! Ob er jetzt
in Moskau vor ihrer Wohnung steht? Sie läuft zum offenen Fenster.
"Du bist noch schöner geworden, Mascha." Wehmütig
tropfen seine Komplimente in den dunklen Raum. Im blauschwarzen Fensterglas
spiegelt sich ihr weißer Körper. Geräusche von spritzendem
Wasser dringen herauf. Sie schaut hinab auf den Platz vor dem Hotel. Zwei
Wagen der Stadtreinigung sprengen die Straßen ab, fahren hinüber
zum Bahnhof, Schaumflocken stieben durch die Luft. Sie beugt sich hinaus.
"Komm mal, da unten schäumt's, wie in einem
Wäschetrog."
Ihm gelingt ein jugendlicher Schwung aus dem Bett. Sein hastiger Atem
in ihrem Nacken, das war schon einmal so. Aus dem Schaum wird Schneegestöber.
Damals im Winter, auf dem Schlitten, da hatten sie sich geliebt.
Er beißt ihr in den Nacken. "Jeden Tag seifen sie hier die
Straßen ab. Du weißt doch. Tschernobyl." Er versucht,
ihren Zopf zu öffnen, zieht sie zurück aufs Bett.
"Ein Glück, daß Moskau so weit weg ist", sagt sie.
"Ein Glück, daß du so nah bist", sagt er und gräbt
sein Gesicht in ihr Haar. Dann wirft er sich auf den Rücken. "Steig
auf Mascha, komm!"
"Ich kann nicht", murmelt sie, "nicht so schnell."
"Denk an früher", lockt er.
Verloren besteigt sie seine Mitte. Sie spürt sein weiches, wabbeliges
Fleisch und will nicht an früher denken. Sie denkt an Mischa. Ihre
Schenkel reiben Lenden, ihre Fingerspitzen zwirbeln Brustwarzen. Langsam
steigt Lust in ihr auf. Sie schließt die Augen - da sind die Bilder
schon da. Mischa mit der Kamera in der Nähe des Roten Platzes, wie
er die Obdachlosen fotografiert. Sie auf dem Weg zum Kaufhaus Gum, auf
der Suche nach Lebensmitteln, vielleicht ein paar neuen Schuhen, da kommt
ihr dieser freche Blick in die Quere. Sie muß stehenbleiben, will
sich nicht wehren. Später dann in der Metro, seine Hand in ihrer
Bluse, und sie genießt die kühne Schamlosigkeit, will, daß
es kein Ende nimmt.
"Mascha, ich liebe dich immer noch", ächzt es unter ihr.
"Sei still", faucht sie, "ich muß mich konzentrieren."
Da ist der Abend, als sie mit Mischa aufs Land hinausfährt, wie sie
durchs Dorf laufen, alle paar Meter stehenbleiben, in Küssen ertrinken,
wie Mischa sie auszieht, einfach so, auf der Straße, Stück
für Stück, und sie schämt sich wieder nicht, ist wie toll
vor Lust.
"Ich werde mich von meiner Frau trennen", stöhnt er.
"Ja, ja", lacht Mascha. Und da ist sie mit Mischa vor dem Scheunentor,
wie er sie streichelt und leckt, und plötzlich das greise Bauernpaar
vor dem Gehöft, starr vor Staunen. Mischa wirft seinen Mantel über
Mascha, zwei ertappte Kinder, die davonstürmen, hinter einer Mauer
wieder übereinander herfallen und selbst dann noch weiter küssen,
als Mischa pinkelt.
"Ich muß nach Moskau!" Mascha löst sich abrupt. Sie
läuft ins Bad, dreht die Dusche auf, so weit es geht, durch das Prasseln
des Wassers dringt die wütende Stimme des Jugendfreundes. "Früher
warst du nicht frigide!"
Sie bleibt unter der Dusche, lange, bis ihre Haut glüht, und noch
länger, bis ihre Fingerkuppen rubbelig wie in Kindertagen sind.
Als sie aus dem Bad kommt, schläft er fest. Sie geht ans Fenster,
es hat zu regnen begonnen. Dicke Tropfen spritzen auf das Pflaster. Aus
dem Bahnhofsgebäude gegenüber dringt trübes Licht, weit
hinten verschwinden die Gleise, schwarz glänzende, nasse Schlangen.
Der Regen wird stärker, pladdert durch die alten Bäume vor dem
Hotel. "Wenn jetzt eine Kastanie herunterfällt", flüstert
Mascha, "dann wünsch ich mir wieder etwas." Es lösen
sich gleich mehrere Früchte vorn Baum, auf dem Asphalt platzen die
stachligen Schalen, frischlackierte Kugeln tanzen in den schäumenden
Rinnstein.
Als Mascha aufwacht, ist er fort. Er ist gegangen, ohne eine Zeile zu
hinterlassen. Die Zigarettenstangen liegen auf der Konsole. Während
sie sich die Haare bürstet, entdeckt sie unter dem Waschbecken im
Abfalleimer Würste und Hähnchenschenkel übereinandergetürmt.
Sie beugt sich tief über den Eimer: Nackte, gelbweiße, auch
rosa-bläulich schimmernde Schenkel...
Endlich kann sie sich übergeben. Erleichtert bindet sie ihren Zopf,
streift das wollene Kleid über. Sie hat nicht mehr viel Zeit, in
dreißig Minuten fährt der Zug nach Moskau. Sie greift die Zigaretten.
Mischa raucht viel. Heute Abend wird sie bei ihm sein. Schon in der Tür,
kehrt sie nochmals ins Zimmer zurück, fischt aus der Handtasche ihren
Lippenstift. Hastige Krakel quer über den blinden Spiegel der Konsole:
Nur seinetwegen!
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