Berlin, 22.3.2017.
Nach langen Verhandlungen hat sich die Bundesregierung darauf geeinigt,
die nach 1945 gefällten Urteile nach den §§ 175 und
175a zumindest teilweise aufzuheben. Ein entsprechender Gesetzentwurf
wurde heute vom Bundeskabinett beschlossen. Er soll noch vor der
Sommerpause vom Bundestag verabschiedet werden.
Der Entwurf
sieht die Aufhebung aller Urteile nach § 175 vor, die seit
1945 gefällt wurden. Bei den Urteilen nach § 175a werden
nur Urteile nach den Ziffern 3 (Verführung von Personen unter
21 Jahren) und 4 (gewerbsmäßige Unzucht) aufgehoben und
auch nur, soweit sie nicht mit sexuellen Handlungen an Kindern (Personen
unter 14 Jahren) verbunden waren oder die Tatbestände der §§
174 oder 182 erfüllen.
Die betroffenen
Männer, die nach den beiden in der NS-Zeit erheblich verschärften
Paragrafen verurteilt wurden, sollen entschädigt werden. Vorgesehen
sind eine pauschale Entschädigungszahlung von 3.000 Euro sowie
weitere 1.500 Euro für jedes angefangene Haftjahr.
Um eine Entschädigung
zu beantragen, müssen die Betroffenen zuvor bei der einst zuständigen
Staatsanwaltschaft eine Rehabilitierungsbescheinigung beantragen.
Da in vielen Fällen keine Prozessunterlagen mehr vorhanden
sind, soll dafür notfalls auch eine eidesstattliche Versicherung
der Betroffenen ausreichen. In den Fällen, in denen Unterlagen
noch vorhanden sind, könnte es aber auch zu einer neuerlichen
strafrechtlichen Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft kommen.
Ein halbherziges Gesetz
Kommentar
von Alexander Zinn
Eine Aufhebung
der nach 1945 nach den §§ 175 und 175a ergangenen Urteile
ist überfällig und deswegen nur zu begrüßen.
Wie bei den Urteilen aus der NS-Zeit, die erst im Jahr 2002 aufgehoben
wurden, wurde auch hier viel zu lange gezögert. Viele Betroffene
sind inzwischen verstorben oder in einem Alter, in dem sie sich
um ihre Entschädigung, die nur auf Antrag zu gewähren
ist, nicht mehr werden kümmern können. Dennoch ist die
Aufhebung der Urteile für die Betroffenen und ihre Angehörigen
ein wichtiges Signal.
Zu begrüßen
ist auch, dass der Gesetzgeber inzwischen mehr Mut beweist als noch
2002. Damals wurden die Urteile, die eine sogenannte "Verführung"
Jugendlicher unter 21 Jahren betrafen (§ 175a, Ziffer 3), nicht
aufgehoben. Mit der neuen Regelung werden die nach 1945 ergangenen
Urteile nach § 175a, Ziffer 3 nun grundsätzlich aufgehoben
- warum nicht auch die vor 1945 ergangenen Urteile einbezogen werden,
bleibt unklar. Immerhin: Die Kriminalisierung Homosexueller über
ein verschärftes Schutzalter wird als Unrecht erkannt.
Das Problem
liegt wie immer im Detail. So
waren die Unionsparteien nicht einverstanden, die Urteile nach §
175a, Ziffern 2 bis 4 ohne Einschränkungen aufzuheben. Dies
wäre ohne weiteres möglich gewesen, denn in den Fällen,
in denen es um sexuellen Missbrauch von Personen unter 14 Jahren
oder um die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen
ging, kam es immer auch zu einer Verurteilung nach den §§
176 oder 174. Und eine Aufhebung von Urteilen nach diesen Paragrafen
stand zu Recht nie zur Debatte.
Doch man entschied
sich für den komplizierten Weg. Die Unionsparteien bestanden
darauf, heutige Rechtsnormen wie den erst seit 2015 geltenden §
182 rückwirkend auf alle nun aufzuhebenden Fälle seit
1945 anzuwenden. Dass Homosexuelle damit erneut diskriminiert werden,
weil ihre Handlungen eben nicht nach dem zum jeweiligen Zeitpunkt
für Heterosexuelle geltenden Recht beurteilt werden sollen,
sondern nach heute geltenen Maßstäben, war offenbar nicht
zu vermitteln - oder bewusst gewollt.
Konkret geht
es um das Schutzalter für männliche Jugendliche, das bei
heterosexuellen Kontakten bis zur Änderung des § 182 im
Jahr 1994 bei 14 Jahren lag. Nach den heutigen Regeln, die das Ergebnis
einer differenzierteren Bewertung jugendlicher Sexualität sind,
liegt das Schutzalter zwar grundsätzlich auch bei 14 Jahren,
in bestimmten Fällen aber erst bei 16 bzw. 18 Jahren. Bis 18
Jahre sind Jugendliche geschützt, wenn der erwachsene Partner
eine Zwangslage ausnutzt oder ein Sexualkontakt gegen Entgelt zustande
kommt. Bei 16 Jahren liegt das Schutzalter, wenn "die fehlende
Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung" ausgenutzt
wird. In all diesen Fällen kann aber von Strafe abgesehen werden,
"wenn bei Berücksichtigung des Verhaltens der Person,
gegen die sich die Tat richtet, das Unrecht der Tat gering ist".
Durch die Entscheidung,
die heutige Rechtslage rückwirkend auf sämtliche Fälle
seit 1945 anzuwenden, wird also neues Unrecht geschaffen. Denn erwachsene
Frauen konnten bis 1994 straflos Sexualkontakte zu männlichen
Jugendlichen ab 14 Jahren unterhalten. Auch wenn die heutigen Regeln
vernünftiger erscheinen mögen als die alte Gesetzgebung:
Bei der Aufhebung der Urteile wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen
mit männlichen Jugendlichen kann nur die im jeweiligen zeitlichen
Kontext für heterosexuelle Kontakte gültige Rechtslage
ernsthaft als Maßstab herangezogen werden.
Viel verheerender
als die neuerliche Ungleichbehandlung sind aber die praktischen
Folgen des geplanten Gesetzes. Letztlich werden sich diejenigen,
die nach § 175a, Ziffer 3 verurteilt wurden, von neuem einer
strafrechtlichen Untersuchung unterwerfen müssen. Zumindest
dann, wenn sie eine Entschädigung begehren. An diesem Punkt
tritt die Halbherzigkeit der geplanten Regelung zutage. Denn vor
einem Antrag auf Entschädigung müssen sich die Betroffenen
von der einst zuständigen Staatsanwaltschaft eine Rehabilitierungsbescheinigung
ausstellen lassen. Weil man sich auf keine einfache Aufhebung aller
Urteile hat einigen können, drohen in einem Teil der Fälle
also entwürdigende Einzelfallprüfungen. Schlimmstenfalls
werden die Verfahren wieder aufgerollt und die Staatsanwaltschaft
muss erneut prüfen, was im Detail geschah. Dass sich die Betroffenen
einer solchen Prozedur unterwerfen sollen, ist vollkommen unakzeptabel.
Es bleibt zu
hoffen, dass der Gesetzentwurf im weiteren Verfahren nachgebessert
wird, so dass neuerliche Ermittlungen und strafrechtliche Beurteilungen
seitens der Staatsanwaltschaften ausgeschlossen werden. Notwendig
erscheint auch eine Ausweitung der Regelung auf die während
der NS-Zeit gefällten Urteile. Zum einen, um endlich auch die
in diesen Jahren nach § 175a, Ziffer 3 gefälllten Urteile
aufzuheben. Zum anderen, um eine einheitliche Entschädigungsregelung
für alle Opfer des NS-Paragrafen zu schaffen. Denn das Fatale
ist, dass es für die im Nationalsozialismus nach den §§
175 und 175a verfolgten Homosexuellen bislang nur uneinheitliche
und unzureichende Entschädigungsregelungen gibt.
Trotz aller
Kritik im Detail bleibt aber festzuhalten, dass die Regelung für
die große Mehrheit der Betroffenen die Genugtuung und Anerkennung
bringen wird, auf die sie viel zu lange haben warten müssen.
Insofern ist das geplante Gesetz der alles in allem befriedigende
Endpunkt eines langen und entbehrungsreichen Kampfes gegen den §
175, den Kurt Hiller schon 1922 als
die "Schmach des Jahrhunderts" bezeichnete.
Wortlaut der §§
175 und 175a in der Fassung vom 28.6.1935
§ 175
(1) Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich
von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit
Gefängnis bestraft.
(2) Bei einem
Beteiligten, der zu Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre
alt war, kann das Gericht in besonders leichten Fällen von
Strafe absehen.
§ 175a
Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei mildernden Umständen
mit Gefängnis nicht unter drei Monaten wird bestraft:
1. ein Mann,
der einen anderen Mann mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger
Gefahr für Leib oder Leben nötigt, mit ihm Unzucht zu
treiben, oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen;
2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Mißbrauch einer
durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründeten
Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich
von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen;
3. ein Mann über einundzwanzig Jahre, der eine männliche
Person unter einundzwanzig Jahren verführt, mit ihm Unzucht
zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen;
4. ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht
treibt oder von Männern sich zur Unzucht mißbrauchen
läßt oder sich dazu anbietet.
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