Rosa Winkel - Die Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus
Aktuelles
Ideologie
Razzien
Paragraf 175
KZ-Haft
Biografien
Rehabilitierung
 
Literatur
Impressum
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Rehabilitierung: Urteile nach den §§ 175 und 175a teilweise aufgehoben

Berlin, 22.6.2017. Einstimmig hat der Deutsche Bundestag heute ein "Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen" beschlossen. Kritik errregte eine in letzter Minute auf Druck von CDU/CSU erfolgte Änderung, derzufolge nur solche Personen rehabilitiert werden, deren Partner mindestens 16 Jahre alt waren.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 22. März 2017 hatte für die Aufhebung der Urteile noch eine generelle Schutzaltersgrenze von 14 Jahren vorgesehen. Allerdings war auch diese Regelung bereits dadurch konterkariert worden, dass eine nachträgliche Anwendung der heute geltenden Schutzalterregelungen, so insbesondere von § 182 StGB vorgesehen war (vgl. unten). Schon damit wäre, quasi durch die Hintertür, die Ungleichbehandlung Homosexueller aufrechterhalten worden, weil das Schutzalter für heterosexuelle Kontakte mit männlichen Jugendlichen bis zur Abschaffung des § 175 im Jahr 1994 bei 14 Jahren lag.

Durch die jetzt verabschiedete Regelung werden die zu rehabilitierenden Homosexuellen rechtlich sogar schlechter gestellt, als es die heute geltenden Gesetze zum Jugendschutz vorsehen. Damit wird, wie der SPD-Abgeordnete Karl-Heinz Brunner erklärte, von „neuem Unrecht“ geschaffen. Als problematisch wird sich auch die praktische Umsetzung dieser Regelung erweisen, wird die Staatsanwaltschaft doch nun in entwürdigenden Einzelfallprüfungen die Umstände der einstigen Verurteilung klären müssen.

Vgl. dazu Meldung und Kommentar vom 22.3.2017:


Buchtitel aus dem Jahr 1922:
Der Kampf gegen den 1871 geschaffenen
Paragrafen 175 dauerte mehr als ein Jahrhundert


Berlin, 22.3.2017. Nach langen Verhandlungen hat sich die Bundesregierung darauf geeinigt, die nach 1945 gefällten Urteile nach den §§ 175 und 175a zumindest teilweise aufzuheben. Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde heute vom Bundeskabinett beschlossen. Er soll noch vor der Sommerpause vom Bundestag verabschiedet werden.

Der Entwurf sieht die Aufhebung aller Urteile nach § 175 vor, die seit 1945 gefällt wurden. Bei den Urteilen nach § 175a werden nur Urteile nach den Ziffern 3 (Verführung von Personen unter 21 Jahren) und 4 (gewerbsmäßige Unzucht) aufgehoben und auch nur, soweit sie nicht mit sexuellen Handlungen an Kindern (Personen unter 14 Jahren) verbunden waren oder die Tatbestände der §§ 174 oder 182 erfüllen.

Die betroffenen Männer, die nach den beiden in der NS-Zeit erheblich verschärften Paragrafen verurteilt wurden, sollen entschädigt werden. Vorgesehen sind eine pauschale Entschädigungszahlung von 3.000 Euro sowie weitere 1.500 Euro für jedes angefangene Haftjahr.

Um eine Entschädigung zu beantragen, müssen die Betroffenen zuvor bei der einst zuständigen Staatsanwaltschaft eine Rehabilitierungsbescheinigung beantragen. Da in vielen Fällen keine Prozessunterlagen mehr vorhanden sind, soll dafür notfalls auch eine eidesstattliche Versicherung der Betroffenen ausreichen. In den Fällen, in denen Unterlagen noch vorhanden sind, könnte es aber auch zu einer neuerlichen strafrechtlichen Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft kommen.

Ein halbherziges Gesetz

Kommentar von Alexander Zinn

Eine Aufhebung der nach 1945 nach den §§ 175 und 175a ergangenen Urteile ist überfällig und deswegen nur zu begrüßen. Wie bei den Urteilen aus der NS-Zeit, die erst im Jahr 2002 aufgehoben wurden, wurde auch hier viel zu lange gezögert. Viele Betroffene sind inzwischen verstorben oder in einem Alter, in dem sie sich um ihre Entschädigung, die nur auf Antrag zu gewähren ist, nicht mehr werden kümmern können. Dennoch ist die Aufhebung der Urteile für die Betroffenen und ihre Angehörigen ein wichtiges Signal.

Zu begrüßen ist auch, dass der Gesetzgeber inzwischen mehr Mut beweist als noch 2002. Damals wurden die Urteile, die eine sogenannte "Verführung" Jugendlicher unter 21 Jahren betrafen (§ 175a, Ziffer 3), nicht aufgehoben. Mit der neuen Regelung werden die nach 1945 ergangenen Urteile nach § 175a, Ziffer 3 nun grundsätzlich aufgehoben - warum nicht auch die vor 1945 ergangenen Urteile einbezogen werden, bleibt unklar. Immerhin: Die Kriminalisierung Homosexueller über ein verschärftes Schutzalter wird als Unrecht erkannt.

Das Problem liegt wie immer im Detail. So waren die Unionsparteien nicht einverstanden, die Urteile nach § 175a, Ziffern 2 bis 4 ohne Einschränkungen aufzuheben. Dies wäre ohne weiteres möglich gewesen, denn in den Fällen, in denen es um sexuellen Missbrauch von Personen unter 14 Jahren oder um die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen ging, kam es immer auch zu einer Verurteilung nach den §§ 176 oder 174. Und eine Aufhebung von Urteilen nach diesen Paragrafen stand zu Recht nie zur Debatte.

Doch man entschied sich für den komplizierten Weg. Die Unionsparteien bestanden darauf, heutige Rechtsnormen wie den erst seit 2015 geltenden § 182 rückwirkend auf alle nun aufzuhebenden Fälle seit 1945 anzuwenden. Dass Homosexuelle damit erneut diskriminiert werden, weil ihre Handlungen eben nicht nach dem zum jeweiligen Zeitpunkt für Heterosexuelle geltenden Recht beurteilt werden sollen, sondern nach heute geltenen Maßstäben, war offenbar nicht zu vermitteln - oder bewusst gewollt.

Konkret geht es um das Schutzalter für männliche Jugendliche, das bei heterosexuellen Kontakten bis zur Änderung des § 182 im Jahr 1994 bei 14 Jahren lag. Nach den heutigen Regeln, die das Ergebnis einer differenzierteren Bewertung jugendlicher Sexualität sind, liegt das Schutzalter zwar grundsätzlich auch bei 14 Jahren, in bestimmten Fällen aber erst bei 16 bzw. 18 Jahren. Bis 18 Jahre sind Jugendliche geschützt, wenn der erwachsene Partner eine Zwangslage ausnutzt oder ein Sexualkontakt gegen Entgelt zustande kommt. Bei 16 Jahren liegt das Schutzalter, wenn "die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung" ausgenutzt wird. In all diesen Fällen kann aber von Strafe abgesehen werden, "wenn bei Berücksichtigung des Verhaltens der Person, gegen die sich die Tat richtet, das Unrecht der Tat gering ist".

Durch die Entscheidung, die heutige Rechtslage rückwirkend auf sämtliche Fälle seit 1945 anzuwenden, wird also neues Unrecht geschaffen. Denn erwachsene Frauen konnten bis 1994 straflos Sexualkontakte zu männlichen Jugendlichen ab 14 Jahren unterhalten. Auch wenn die heutigen Regeln vernünftiger erscheinen mögen als die alte Gesetzgebung: Bei der Aufhebung der Urteile wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen mit männlichen Jugendlichen kann nur die im jeweiligen zeitlichen Kontext für heterosexuelle Kontakte gültige Rechtslage ernsthaft als Maßstab herangezogen werden.

Viel verheerender als die neuerliche Ungleichbehandlung sind aber die praktischen Folgen des geplanten Gesetzes. Letztlich werden sich diejenigen, die nach § 175a, Ziffer 3 verurteilt wurden, von neuem einer strafrechtlichen Untersuchung unterwerfen müssen. Zumindest dann, wenn sie eine Entschädigung begehren. An diesem Punkt tritt die Halbherzigkeit der geplanten Regelung zutage. Denn vor einem Antrag auf Entschädigung müssen sich die Betroffenen von der einst zuständigen Staatsanwaltschaft eine Rehabilitierungsbescheinigung ausstellen lassen. Weil man sich auf keine einfache Aufhebung aller Urteile hat einigen können, drohen in einem Teil der Fälle also entwürdigende Einzelfallprüfungen. Schlimmstenfalls werden die Verfahren wieder aufgerollt und die Staatsanwaltschaft muss erneut prüfen, was im Detail geschah. Dass sich die Betroffenen einer solchen Prozedur unterwerfen sollen, ist vollkommen unakzeptabel.

Es bleibt zu hoffen, dass der Gesetzentwurf im weiteren Verfahren nachgebessert wird, so dass neuerliche Ermittlungen und strafrechtliche Beurteilungen seitens der Staatsanwaltschaften ausgeschlossen werden. Notwendig erscheint auch eine Ausweitung der Regelung auf die während der NS-Zeit gefällten Urteile. Zum einen, um endlich auch die in diesen Jahren nach § 175a, Ziffer 3 gefälllten Urteile aufzuheben. Zum anderen, um eine einheitliche Entschädigungsregelung für alle Opfer des NS-Paragrafen zu schaffen. Denn das Fatale ist, dass es für die im Nationalsozialismus nach den §§ 175 und 175a verfolgten Homosexuellen bislang nur uneinheitliche und unzureichende Entschädigungsregelungen gibt.

Trotz aller Kritik im Detail bleibt aber festzuhalten, dass die Regelung für die große Mehrheit der Betroffenen die Genugtuung und Anerkennung bringen wird, auf die sie viel zu lange haben warten müssen. Insofern ist das geplante Gesetz der alles in allem befriedigende Endpunkt eines langen und entbehrungsreichen Kampfes gegen den § 175, den Kurt Hiller schon 1922 als die "Schmach des Jahrhunderts" bezeichnete.

 

Wortlaut der §§ 175 und 175a in der Fassung vom 28.6.1935


§ 175
(1) Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft.

(2) Bei einem Beteiligten, der zu Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war, kann das Gericht in besonders leichten Fällen von Strafe absehen.

§ 175a
Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter drei Monaten wird bestraft:

1. ein Mann, der einen anderen Mann mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, mit ihm Unzucht zu treiben, oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen;

2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Mißbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen;

3. ein Mann über einundzwanzig Jahre, der eine männliche Person unter einundzwanzig Jahren verführt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen;

4. ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern sich zur Unzucht mißbrauchen läßt oder sich dazu anbietet.

 

 

© Alexander Zinn 2017