Rosa Winkel - Die Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus
Aktuelles
Ideologie
Razzien
Paragraf 175
KZ-Haft
Biografien
Rehabilitierung
 
Literatur
Impressum
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Vergessene Opfer? Die verspätete Rehabilitierung der Homosexuellen

Anders als die meisten ihrer Zeitgenossen empfinden viele Homosexuelle den 8. Mai 1945 als einen Tag der Befreiung. Dies gilt nicht nur für KZ-Häftlinge wie Rudolf Brazda und Willi Heckmann, die nun freikommen. Auch viele andere machen sich Hoffnungen, dass die Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten nun ein Ende findet. Die Erwartungen, die der Hamburger Homosexuellenaktivist Willy H. Nillius 1949 formuliert, dürften die meisten teilen: „Streichung des § 175 als gerechte Folge der Wiedergutmachung. Freilassung sämtlicher wegen § 175 bestrafter und eingesperrter Häftlinge, Einstellung bezw. Niederschlagung sämtlicher schwebender diesbezüglicher Verfahren, Herausnahme und Tilgung sämtlicher photographischer Aufnahmen aus dem sogenannten Verbrecher-Album, sowie Tilgung sämtlicher sogenannter Vorstrafen bezüglich des § 175 aus dem Strafregister“. Doch die Hoffnungen werden schon bald enttäuscht. In den westdeutschen Ländern wird die NS-Fassung des § 175 schon bald wieder angewendet. Und auch in Ostdeutschland urteilen viele Gerichte nach dem NS-Gesetz, bevor das Oberste Gericht der DDR 1950 entscheidet, fortan gelte hier die etwas mildere Weimarer Fassung des Paragrafen.

Wenig verwunderlich erscheint es vor diesem Hintergrund, dass auch die Bemühungen Einzelner, als Opfer des Faschismus anerkannt zu werden, auf Ablehnung stoßen. So wird es von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) „strikt abgelehnt“, ehemalige Rosa-Winkel-Häftlinge „in unsere Organisation aufzunehmen“, wie man Rudolf Klimmer 1948 mitteilt. Nur wer als „Antifaschist Widerstand geleistet“ habe, könne „Mitglied werden“, die „Verfolgung seitens des Naziregimes gegenüber einem Homosexuellen ist für uns noch kein Aufnahmegrund“. Demgegenüber hat die VVN aber kein Problem damit, ehemalige jüdische Häftlinge aufzunehmen, selbst wenn diese keinen „Widerstand geleistet“ haben. Verweigert wird den Homosexuellen auch eine Entschädigung für Gefängnis- und KZ-Haft. Der 1945 für die SBZ und ganz Berlin geschaffene Status eines „Opfers des Faschismus“ (OdF), mit dem zahlreiche materielle Vergünstigungen verbunden sind, wird nur politisch oder nach den Nürnberger Rassegesetzen Verfolgten zuerkannt. Eine Verfolgung nach § 175 reicht für eine Anerkennung nicht aus, selbst wenn sie mit langjähriger KZ-Haft einherging. Einige Homosexuelle versuchen deswegen, sich als politisch Verfolgte auszugeben. Doch selbst bei denjenigen, deren politische Verfolgung sich nicht anzweifeln lässt, wird der Status als OdF wieder aberkannt, wenn eine „Vorstrafe“ nach § 175 bekannt wird. In vielen dieser Fälle stellt das Hauptamt OdF sogar Strafantrag wegen Betrugs, weil die Verurteilung nach § 175 verschwiegen wurde. Insgesamt sind 22 Fälle bekannt, in denen Homosexuellen ihr Status als OdF nachträglich aberkannt wird.



Der KZ-Überlebende Rudolf Brazda (rechts) mit seinem
Freund Fernand Beinert nach der Befreiung Buchenwalds
Bildquelle: Nachlass Brazda


Von der DDR wird der Status des OdF in den eines „Verfolgten des Naziregimes“ überführt, in West-Berlin wird daraus der „Politisch, religiös oder rassisch Verfolgte“. An den Kriterien zur Anerkennung ändert sich dadurch nichts – Homosexuelle bleiben weiterhin außen vor. Ebenso stellt sich die Situation in der Bundesrepublik dar. In den Bundesentschädigungsgesetzen von 1953 und 1956 werden die Rosa-Winkel-Häftlinge nicht berücksichtigt. Einen Anspruch auf Entschädigung kann danach nur geltend machen, wer aus „Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung“ verfolgt wurde. Dennoch stellen einige Homosexuelle Entschädigungsanträge, die bislang bekannten Fälle werden aber alle abgelehnt. Nur diejenigen, die (auch) eine Verfolgung aufgrund „politischer Gegnerschaft“ nachweisen können, haben die Chance, eine Wiedergutmachung durchzusetzen. So der Altenburger Lehrer Kuno Fiedler, der 1933 aus politischen Gründen aus dem Schuldienst entlassen worden und nach seiner Verhaftung 1936 in die Schweiz geflüchtet war.


Erst mit dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz (AKG), das 1958 in Kraft tritt, schafft die Bundesrepublik schließlich eine Entschädigungsmöglichkeit, die auch verfolgten Homosexuellen offensteht – zumindest in der Theorie. Das AKG regelt ein ganzes Sammelsurium von „Kriegsfolgen“, darunter auch Versorgungs- und Schadensersatzansprüche, die „auf einer Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit beruhen“. Mit dieser kryptischen Beschreibung sind allerdings nur Folgen unerlaubter Handlungen gemeint, worunter man immerhin auch eine Inhaftierung in Konzentrationslagern versteht. Ehemalige Rosa-Winkel-Häftlinge können nun erstmals Ansprüche geltend machen, nicht jedoch jene Homosexuellen, die ‚nur‘ Gefängnis- oder Zuchthausstrafen nach § 175 verbüßt haben. Die Verhängung dieser Strafen durch „ordentliche Gerichte“ wird weiterhin als rechtmäßig angesehen, ebenso die Anordnung einer zwangsweisen Kastration nach § 42k StGB. Anträge nach dem AKG müssen bis zum 31. Dezember 1959 eingereicht werden. Es sind schließlich nur 23 Homosexuelle, die einen solchen Antrag stellen, neun davon erst nach Ablauf der Antragsfrist – wie viele positiv beschieden werden, ist nicht bekannt.




Rudolf Brazda und Berlins Regierender Bürgermeister
Wowereit 2008 am neuen Homosexuellen-Denkmal
Foto: Alexander Zinn

Ein Grund für die geringe Zahl der Antragsteller – mehrere tausend Rosa-Winkel-Häftlinge müssten den NS-Terror überlebt haben – dürfte in der kurzen Antragsfrist liegen. Viele werden von dieser Möglichkeit nicht rechtzeitig erfahren, zumal sie kaum bekannt gemacht wird. Aber auch Hemmungen, sich zu seinem Verfolgungsschicksal zu bekennen, werden eine Rolle spielen. Angesichts der andauernden Stigmatisierung und Strafverfolgung nach § 175 haben viele Betroffene wohl Bedenken, sich bei den für die Entschädigung zuständigen Oberfinanzdirektionen als Homosexuelle aktenkundig zu machen. Die meisten empfinden ihre Verfolgung offenbar als einen solchen Makel, dass sie sie aus ihrer Biografie tilgen. Ein gutes Beispiel sind die Tagebücher des Schriftstellers Erich Ebermayer, in denen er die Beziehung zu seinem Freund Ernst Max Hacke zwar relativ offen schildert, seine Vernehmung durch die Gestapo aber im Nachhinein beschönigt.

Einen gesellschaftlichen Klimawandel läutet erst die Entschärfung des § 175 ein, zu der es 1968 in der DDR und 1969 dann auch in der Bundesrepublik kommt. Doch e
rst in den 80er Jahren, als die sogenannten ‚vergessenen Opfergruppen‘ langsam in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit rücken, werden neue Entschädigungsmöglichkeiten geschaffen. Allerdings nur in der Bundesrepublik, wo es 1981 zur Einrichtung von sogenannten „Härtefonds“ kommt, in die Homosexuelle nun ausdrücklich einbezogen werden. Doch das heißt nicht viel: Die erlittene KZ-Haft kann man sich nun als Ausfallzeit bei der Rentenversicherung anrechnen lassen – für Gefängnis- oder Zuchthausstrafen gilt auch diese Regelung nicht. 1988 werden die Härtefallregelungen nach dem AKG dann noch einmal ausgeweitet. Seither können ehemalige Rosa-Winkel-Häftlinge eine einmalige Beihilfe bis zu 5.000 DM beantragen – allerdings nur, wenn sie sich „gegenwärtig in einer Notlage“ befinden. In „besonderen Ausnahmefällen“ sind sogar laufende Leistungen möglich. Weiterhin keine Entschädigung gibt es für die „Bestrafung homosexueller Betätigung in einem nach strafrechtlichen Vorschriften durchgeführten Strafverfahren“. Bis Oktober 1996 werden 17 entsprechende Anträge eingereicht, sechs Männern werden einmalige und zwei weiteren laufende Leistungen bewilligt. Unter den Antragstellern ist auch Rudolf Brazda. Doch seine Anträge haben keinen Erfolg.

Im Trippelschritt kommt es schließlich zu weiteren Verbesserungen der rechtlichen Situation: 1994 wird der 1969 entschärfte § 175 komplett gestrichen – seither gibt es in Deutschland kein Sonderstrafrecht für Homosexuelle mehr. Am 23.7.2002 hebt der Deutsche Bundestag dann die während der NS-Zeit ergangenen Urteile nach § 175 auf. Halbherzig geht man mit § 175a um, bei dem nur Urteile nach Ziffer 4 (gewerbsmäßige Unzucht) aufgehoben werden. Die strafverschärfende Ungleichbehandlung gegenüber Heterosexuellen, die in Ziffer 1 bis 3 zum Ausdruck kommt, hält man dagegen für weiterhin gerechtfertigt – das Gespenst vom „homosexuellen Jugendverführer“ spukt offenbar bis heute in so manchem Politikerkopf. Im Mai 2008 wird in Berlin ein von der Bundesrepublik Deutschland errichtetes Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen eingeweiht. Und im März 2011 werden die Härtefallrichtlinien des AKG nochmals angepasst. Beihilfen können nun auch für Freiheitsstrafen nach den §§ 175 und 175a gewährt werden, soweit diese „durch das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile“ für ungültig erklärt wurden.

Im Hinblick auf die Rehabilitierung und Entschädigung der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen kann man denn auch nur von einem Scheitern auf ganzer Linie sprechen. Die Halbherzigkeit, mit der das Thema bis heute behandelt wird, steht in auffälligem Kontrast zur Bedeutung, die der NS-Vergangenheit inzwischen beigemessen wird. Dass man so lange zögerte, bis sich das Problem ‚biologisch‘ löste, wird sich kaum mehr wiedergutmachen lassen. Eine entsprechende Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes wäre heute nicht mehr ausreichend. Ergänzende Maßnahmen müssten hinzutreten, die deutlich machen, dass sich die Bundesrepublik der Verantwortung für das an den Homosexuellen begangene Unrecht stellt. Ein konsequenter Schritt hätte die strafrechtliche Rehabilitierung und Entschädigung der nach 1945 nach den Paragrafen 175 und 175a verurteilten Männer sein können. Doch auch hier konnte sich der Bundestag im Juni 2017 nur zu einer Regelung durchringen, die die Ungleichbehandlung Homosexueller fortschreibt. Ähnlich wie bei der Aufhebung der vor 1945 gefällten Urteile wurde im Namen des Jugendschutzes ein neues Sonderrecht geschaffen, demzufolge nur solche Personen rehabilitiert werden, deren Partner mindestens 16 Jahre alt waren. Mit der Konsequenz, dass die zuständige Staatsanwaltschaft nun in Einzelfallprüfungen die Umstände der einstigen Verurteilung klären muss. Eine großzügigere und weniger bürokratische Regelung, die den Betroffenen derartig entwürdigende Überprüfungen ihrer ‚Verfehlungen‘ erspart, hätte dem Gesetzgeber besser zu Gesicht gestanden.

Literaturtipp:

Alexander Zinn: »Aus dem Volkskörper entfernt«? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus.
Frankfurt am Main 2018: Campus. Link zum Buchtipp

© Alexander Zinn 2017