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Die Verschärfung
des Paragrafen 175 und die Folgen
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Die von Gestapo
und SS initiierte erste Verfolgungswelle im Herbst und Winter 1934/35
entzieht sich jeglicher rechtsstaatlichen Kontrolle. Und dennoch
zeigt sich das Gestapa bemüht, den Terror rechtsstaatlich zu
bemänteln. Offiziell werden die Maßnahmen deswegen verknüpft
mit dem Versuch einer strafrechtlichen Verfolgung der Betroffenen
nach § 175. Den meisten verhafteten Homosexuellen kann man
aber keine strafbaren Handlungen im Sinne des Paragrafen nachweisen,
denn dieser kriminalisiert nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts
nur beischlafähnliche Handlungen, die wechselseitige
Onanie ist dagegen straffrei. Viele der Verhafteten räumen
Letztere bei ihren Vernehmungen ein, bestreiten aber weitergehende
Handlungen. Juristisch kann man sie so nicht verfolgen. Weil man
die Homosexualität aber ganz generell für eine Staatsgefahr
hält, werden auf Anordnung des Preußischen Ministerpräsidenten
erzieherische Maßnahmen gegen die Beschuldigten (Unterbringung
in einem Konzentrationslager) ergriffen.
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Die Verfolgungsmaßnahmen der Gestapo zwingen das Reichsjustizministerium
schließlich zum Handeln. Seit März 1935 kommt es zu mehreren
Treffen, deren Ziel es ist, den § 175 zu verschärfen.
So erklärt der Geheime Regierungsrat Dr. Leopold Schäfer
später, üble Erfahrungen der letzten Zeit
hätten es angezeigt erscheinen lassen, die für die
allgemeine Erneuerung des Strafrechts in Aussicht genommenen Verschärfungen
der Vorschriften gegen die gleichgeschlechtliche Unzucht zwischen
Männern vorweg in Kraft zu setzen. Der größte
Mangel des alten Paragrafen sei es gewesen, dass nur
beischlafähnliche Handlungen getroffen wurden, so dass Staatsanwaltschaft
und Polizei gegen offensichtlichen gleichgeschlechtlichen Liebesverkehr
zwischen Männern nicht einschreiten konnten, wenn sie solche
Handlungen nicht nachweisen konnten.
Dass der Paragraf
neu gefasst werden soll, ist bereits seit September 1934 beschlossene
Sache. Nach dem Röhm-Putsch hatte die Strafrechtskommission
auf Initiative von Prof. Graf Gleispach eine deutliche Verschärfung
beschlossen: Künftig sollten nicht nur beischlafähnliche
Handlungen verfolgt werden, sondern auch gewohnheitsmäßig
handelnde Homosexuelle. Gleispach warnte vor einer Verfälschung
des öffentlichen Lebens und übernahm damit Himmlers
Bedrohungsszenario, Homosexuelle könnten den nationalsozialistischen
Männerstaat unterwandern und zerstören:
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Streitschrift
des Juristen Kurt Hiller aus dem Jahr
1922
Bildquelle: Privatbesitz
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Durch
die Duldung der männlichen Homosexualität würde sich
eine Verfälschung der Auffassungen und der Grundlage ergeben,
auf der unser ganzes gesellschaftliches Leben ruht. Ein homosexueller
Mann kann z. B. in seiner Betätigung im Amt durch Motive beherrscht
werden, die nicht vorausgesehen werden können. Er ist sozusagen
eine Frau im männlichen Gewand. Daraus entsteht das, was ich
als Verfälschung des öffentlichen Lebens bezeichnen möchte.
Doch erst die Verfolgungsmaßnahmen im Herbst und Winter 1934/35
führen schließlich zu der Entscheidung, die Verschärfung
des § 175 aus der allgemeinen Strafrechtsreform auszukoppeln
und vorzuziehen. Der an den Beschlüssen der Strafrechtskommission
orientierte Entwurf des Reichsjustizministeriums wird noch einmal
komplett überarbeitet. Am 7.5.1935 teilt das Justizministerium
dem Gestapa dann die endgültige Fassung des neuen Paragrafen
mit, die am 28. Juni 1935 schließlich auch vom Reichskabinett
beschlossen wird.
Der alte Begriff
der widernatürlichen Unzucht wird im neuen §
175 durch den der Unzucht ersetzt. Dies bedeutet, dass
künftig jede unzüchtige Handlung zwischen Männern
belangt werden kann, soweit mit ihr eine wollüstige Absicht
verknüpft ist. Das schließt nicht nur die bislang straffreie
wechselseitige Onanie ein. Theoretisch soll nun bereits das bloße
Anschauen des geliebten Objekts oder das bloße
Berühren dafür ausreichen, bestraft zu werden. Auch
das bisher straffreie Streicheln, Umarmen, Küssen u.
dgl. wird nun mit Gefängnis bedroht. Neu geschaffen wird
§ 175a, der schwere Fälle der Unzucht mit
Zuchthausstrafen bis zu zehn Jahren bedroht. Mit diesem Paragrafen
wird nicht nur die Nötigung und der Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses
bestraft, sondern erstmals ein gesondertes Schutzalter für
homosexuelle Handlungen geschaffen, indem der bislang nicht strenger
sanktionierte Verkehr mit Jugendlichen oder Heranwachsenden zwischen
14 unter 21 Jahren mit Zuchthausstrafen bedroht wird. Besonders
pikant ist diese Regelung, weil sie auch 18- bis 20-Jährige
schützt, die nach dem damaligen Jugendgerichtsgesetz
bereits als Erwachsene gelten und voll strafmündig sind. Auch
die sogenannte gewerbsmäßige Unzucht, das
heißt die männliche Prostitution, wird erstmals kriminalisiert
und mit einem Sonderstrafrecht für Homosexuelle verfolgt.
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Hinzu kommt, dass nach dem ebenfalls neu eingeführten §
2 des Strafgesetzbuches, dem sogenannten Analogieparagrafen,
künftig nicht nur solche Handlungen bestraft werden, die einen
Straftatbestand erfüllen, sondern auch solche, die nach
dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach dem gesunden Volksempfinden
Bestrafung verdienen. Der Willkür sind nun Tür und
Tor geöffnet, denn auf eine Billigung durch das sogenannte
gesunde Volksempfinden können Homosexuelle nicht
zählen. Der unterstellte Willen des Volkes ist in den Augen
der NS-Machthaber deckungsgleich mit dem Führerwillen,
der nach einer rücksichtslosen Ausrottung dieser Pestbeule
verlangt. Indem der neue § 2 nicht mehr den Wortlaut, sondern
nur noch den Grundgedanken des Gesetzes und das gesunde
Volksempfinden zum Ausgangspunkt der Rechtsprechung erklärt,
schafft er einen vermeintlich rechtsstaatlichen Rahmen für
Entscheidungen, die sich über die bisherige Rechtsprechung
hinwegsetzen.
Die Verschärfung
des § 175 löst eine Prozesslawine aus. 1935 verdoppelt
sich die Zahl der Verurteilungen auf 1.887, 1936 steigt sie auf
5.060, im Jahr 1937 dann nochmals auf 7.898. Und auch in den Jahren
1938 und 1939 hält sie sich auf diesem relativ hohen Niveau.
Insgesamt werden zwischen 1935 und 1944 rund 50.000 Urteile nach
dem NS-Paragrafen 175 gefällt.
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Zeichnung
aus der Zeitschrift Die Freundschaft, 3/1951
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Doch auch bei
den durch die Gerichte verhängten Strafen kommt es zu einer
erheblichen Verschärfung der Verfolgungspraxis. Wurden vor
1933 noch relativ milde Strafen verhängt, meist Geldstrafen
(22 %) oder geringe Freiheitsstrafen unter drei Monaten (52 %),
so zeigt sich nach der Neufassung des § 175 eine deutlich härtere
Gangart: 1936 ist der Anteil der Geldstrafen auf 3,6 und der der
geringen Freiheitsstrafen auf 16,7 Prozent gesunken. Dagegen dominieren
nun Gefängnisstrafen von drei bis elf Monaten (47,2 %), die
vor 1933 nur 20,9 Prozent ausmachten. In weiteren 27,4 Prozent der
Fälle wird sogar auf Gefängnis von einem Jahr und mehr
erkannt, vor 1933 waren es nur 2,8 Prozent. Auf Zuchthausstrafen,
die vorher nur in wenigen Ausnahmefällen verhängt wurden,
nach dem neu geschaffenen § 175a nun aber regulär möglich
sind, wird in immerhin 3,8 Prozent der Fälle erkannt.
Die harte Urteilspraxis
ist auch deshalb bemerkenswert, weil die Verschärfung des §
175 zwar eine erhebliche Ausweitung der Tatbestandsmerkmale, aber
keine Erhöhung des Strafrahmens vorsieht. Die Richter, so muss
man die Entwicklung deuten, handeln hier also oft in vorauseilendem
Gehorsam gegenüber den neuen Machthabern. Teilweise werden
dabei auch grundlegende rechtsstaatliche Maßstäbe missachtet.
So insbesondere das Rückwirkungsverbot, das das Reichsgericht
für Verurteilungen nach § 175 im August 1935 faktisch
aufhebt. So dürfen nun auch rückwirkend Handlungen wie
die wechselseitige Onanie abgeurteilt werden, die vor der Gesetzesverschärfung
von 1935 begangen wurden, also zu einem Zeitpunkt, als sie noch
straffrei waren.
Auf eine Kriminalisierung
der lesbischen Sexualität wird bei der Strafrechtsverschärfung
von 1935 dagegen ganz bewusst verzichtet. Begründet wird die
Straffreiheit unter anderem damit, dass lesbische Frauen im Gegensatz
zu homosexuellen Männern in der Regel nicht aus der Fortpflanzung
ausschieden und somit keine Zeugungskraft vergeudet
würde. Doch nicht nur bevölkerungspolitische Erwägungen
sprechen gegen eine Kriminalisierung der lesbischen Liebe, man sieht
in ihr auch keine Staatsgefahr, weil die von homosexuellen
Männern drohende Verfälschung des öffentlichen
Lebens beim gleichgeschlechtlichen Verkehr zwischen
Frauen keine Rolle spiele, wie der Berichterstatter Gleispach
es schon 1934 formulierte.
Auch nach dem
Analogieparagrafen 2 kann die lesbische Liebe nicht verfolgt werden.
Für ihre Mutmaßung, dass im Hinblick auf den schwammigen
Begriff des gesunden Volksempfindens [
] auch Frauen
nach Paragraf 175 verurteilt worden sind, kann die Historikerin
Claudia Schoppmann keine Belege anführen. Derartige Verurteilungen
hätten dem Willen der NS-Gesetzgeber auch explizit widersprochen.
So erläutert Regierungsrat Schäfer schon am 12.7.1935
in der Zeitschrift Deutsche Justiz, dass mit dem Analogieparagrafen
gerade nicht Grenzen, die der Gesetzgeber bewusst gesteckt
hat, niedergelegt werden dürften: Wenn also z.
B. in § 175 StGB. die gleichgeschlechtliche Unzucht zwischen
Männern mit Strafe bedroht wird, so ist damit klar zum Ausdruck
gebracht, dass die lesbische Liebe nicht in die Strafbarkeit einbezogen
werden soll; die Tribadie kann deshalb auch im Wege der Rechtsanalogie
nicht bestraft werden. Eine Linie, die der einschlägige
Strafrechtskommentar auch 1944 noch vertritt: Unzucht zwischen
Frauen (sog. lesbische Liebe) kann auch nicht in entsprechender
Anwendung (§ 2) bestraft werden; es liegt hier eine bewusste
Begrenzung durch den Gesetzgeber vor.
Dass Frauen
in Einzelfällen tatsächlich nach § 175 verurteilt
werden, wie Schoppmann zu Recht anmerkt, hat ganz andere Gründe.
Denn eine Frau kann an der Tat des Mannes als Anstifterin
oder Gehilfin teilnehmen. Möglich ist auch eine Verurteilung
wegen Unzucht mit Tieren, bis 1935 nach § 175,
dann nach dem neu geschaffenen § 175b. Schon vor 1933 werden
Frauen regelmäßig nach § 175 verurteilt, wobei die
Unzucht mit Tieren die Hauptursache ist. Zwischen 1920 und 1930
gehen zehn von insgesamt zwölf Verurteilungen weiblicher Personen
darauf zurück. Auch für die Jahre 1933 bis 1943 sind entsprechende
Statistiken überliefert: Demnach werden in dieser Zeit 23 Frauen
verurteilt. Darunter sind mindestens acht Fälle von Unzucht
mit Tieren, die die Statistik für die Jahre 1933 bis 1936 gesondert
ausweist. In Anbetracht der eindeutigen Rechtslage muss man die
verbleibenden Fälle dem Tatbestand der Beihilfe zurechnen.
Dass eine Frau wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen
mit einer anderen Frau nach § 175 verurteilt worden wäre,
konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Und selbst wenn es zu
einer solchen Verurteilung gekommen wäre, hätte der betroffenen
Frau der Instanzenweg zum Oberlandesgericht bzw. Reichsgericht offengestanden,
von dem viele homosexuelle Männer Gebrauch machten. Diese Gerichte
hätten ein solches Urteil mit großer Wahrscheinlichkeit
aufgehoben.
Auch als nach
dem Anschluss Österreichs 1938 der dortige §
129, der die Unzucht unter Frauen im Gegensatz zum deutschen §
175 mit einschließt, zur Debatte steht, entscheidet der Ausschuss
für die Angleichung der deutschen Strafrechte, in dem für
das gesamte Reich geplanten nationalsozialistischen Strafgesetzbuch
für die lesbische Liebe eine Bestrafung nicht in Aussicht
zu nehmen. Die Verwirklichung dieses Projekts wird aus pragmatischen
Gründen allerdings auf die Zeit nach dem erwarteten Endsieg
verschoben, der § 129 bleibt in der Ostmark vorläufig
in Kraft. Doch schon am 31. März 1942 weist Roland Freisler,
Staatssekretär im Reichsjustizministerium, die OLG-Präsidenten
und Generalstaatsanwälte an, die lesbische Liebe nicht
mehr zu bestrafen (gilt für die Ostmark). Die wenigen
Verurteilungen lesbischer Frauen nach § 129, zu denen es in
Österreich nach 1938 noch kommt, kann man also kaum als einen
Ausdruck nationalsozialistischer Verfolgungspolitik
betrachten.
Literaturtipp:
Alexander Zinn:
»Aus dem Volkskörper entfernt«? Homosexuelle
Männer im Nationalsozialismus.
Frankfurt am Main 2018: Campus. Link
zum Buchtipp
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