Rosa Winkel - Die Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus
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Schwieriges Gedenken

Viele der Männer, die in den NS-Konzentrationslagern als Homosexuelle inhaftiert wurden, waren wegen sogenannter „Jugendverführung“, wegen Kindesmissbrauchs oder wegen anderer krimineller Delikte vorbestraft. Eine Herausforderung für die Erinnerungskultur

 

Über Jahrzehnte gehörten die homosexuellen KZ-Häftlinge zu den „vergessenen“ Opfergruppen. In den vergangenen Jahren rücken sie jedoch zunehmend ins Licht der Öffentlichkeit. Der Wunsch, endlich auch an die Männer zu erinnern, die die Nationalsozialisten mit dem Rosa Winkel brandmarkten, hat eine Reihe von erinnerungspolitischen Initiativen ausgelöst. In verschiedenen KZ-Gedenkstätten wurden seit den 1980er Jahren Gedenktafeln für die Rosa-Winkel-Häftlinge angebracht, wofür oft Widerstände anderer Häftlingsgruppen überwunden werden mussten. Es folgten lokale Denkmäler, zum Beispiel in Frankfurt am Main, wo 1994 der „Frankfurter Engel“ errichtet wurde.

Im Jahr 2008 wurde dann gegenüber vom Berliner Holocaust-Mahnmal das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen eingeweiht, das auch ästhetisch auf das den ermordeten Juden gewidmete Mahnmal Bezug nimmt. Mit Ausstellungen, Stolpersteinsetzungen und Gedenkfeiern wird zunehmend auch an einzelne Verfolgungsschicksale erinnert. Ein Höhepunkt dieser neuen Erinnerungskultur war das Gedenken des Deutschen Bundestages anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2023, bei dem erstmals homo- und transsexuelle Opfer in den Mittelpunkt gestellt wurden.

Mit diesem nachholenden Gedenken wird aber nun auch ein Problem offenbar, das in der schwulen und lesbischen Erinnerungskultur bislang oft ausgeblendet wurde: Viele der Männer, die in den NS-Konzentrationslagern als Homosexuelle inhaftiert wurden, waren wegen sogenannter „Jugendverführung“, wegen Kindesmissbrauchs oder wegen anderer krimineller Delikte vorbestraft.

 

Tafel zur Kennzeichnung der Häflinge
in den NS-Konzentrationslagern

Bildquelle: United States Holocaust Museum Washington

 

Wie man mit solchen „schwierigen“ Fällen umgehen könnte, ist bislang kaum reflektiert worden. Vielmehr ist es gang und gäbe, problematische biografische Aspekte zu verschweigen oder zu bagatellisieren. So geschah es auch in der Gedenkstunde des Bundestages, bei der, stellvertretend für die Opfergruppe schwuler Männer, der Auschwitz-Überlebende Karl Gorath geehrt wurde. Dabei blieben entscheidende Aspekte unerwähnt: Denn Gorath war nicht wegen einvernehmlicher Homosexualität mit Männern verurteilt worden, sondern wegen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen. Der Historiker Lutz van Dijk, der die Gedenkfeier initiiert und in langjähriger Lobbyarbeit durchgesetzt hatte, verschwieg diese Vorstrafen in der von ihm verfassten Gedenkrede bewusst und präsentierte Gorath stattdessen als einen „gewöhnlichen“ Homosexuellen.

Das Bundestagspräsidium, das van Dijks Konzeption der Gedenkfeier übernahm, war dabei nicht gut beraten. Tatsächlich waren die Warnzeichen im Fall Gorath unübersehbar: So war schon lange bekannt, dass er zu einer Zuchthausstrafe verurteilt worden war, die er in Celle verbüßt hatte. Zuchthausstrafen wurden jedoch nicht in Fällen „einfacher“ Homosexualität nach § 175 verhängt, sondern dann, wenn es um „qualifizierte“ Homosexualität nach § 175a ging, so insbesondere um die „Verführung“ Jugendlicher. Mit einer Anfrage beim Landesarchiv Niedersachsen hätte dieser Punkt leicht überprüft werden können. Denn dort wird Goraths Zuchthausakte aufbewahrt, die seine Vorstrafen en detail dokumentiert.

Demnach war Gorath 1934 erstmals verurteilt worden: nach § 176 wegen „unzüchtiger Handlungen“ mit Kindern. Seit 1931 hatte der damals 18-Jährige im Christlichen Verein Junger Männer mit „mehreren noch nicht 14 Jahre alten Schülern wechselseitige Onanie betrieben“. Überdies hatte er „die Kinder zum Teil auch zwischen den Oberschenkeln und in dem After gebraucht“. Überdies hatte man ihn damals wegen Verleumdung bestraft, weil er einen Schulleiter, der ihn offenbar angezeigt hatte, seinerseits der Homosexualität bezichtigt hatte. Es folgte eine Verurteilung wegen Unterschlagung und Betrugs, bevor Gorath dann 1939 erneut ins Visier der Polizei geriet: In einem Versorgungsheim, in dem er als Krankenpfleger arbeitete und auch Jugendliche beaufsichtigen musste, hatte er einen 15-Jährigen sexuell bedrängt. Wie sich im Zuge des Verfahrens herausstellte, hatte er auch noch andere ihm anvertraute Jugendliche belästigt. Das Landgericht Verden verurteilte ihn schließlich wegen „Verführung“ Jugendlicher nach § 175a zu insgesamt drei Jahren Zuchthaus. Die Strafe fiel auch deswegen so hart aus, weil Gorath das zwischen ihm und den Jugendlichen bestehende „Autoritätsverhältnis“ in den Augen des Gerichts „schmählich missbraucht“ hatte.

All dies hätte man wissen können. Und Lutz van Dijk wusste es auch, wie er mittlerweile in einem Beitrag für Welt online offenbart hat. Dennoch verschwieg er die Missbrauchsvorwürfe. Lieber stilisierte er Gorath zu einem Märtyrer, der angeblich wegen einvernehmlicher Homosexualität nach § 175 verurteilt worden sei, weil er sich „mit anderen Männern“ traf. Die Verurteilung wegen Kindesmissbrauchs verharmloste er mit der Formulierung: „Zwei Jungen eben“. Als sei Gorath zum Zeitpunkt der Taten selbst noch ein Kind gewesen.

Inzwischen hat Lutz van Dijk eingeräumt, dass es im Fall Gorath um Sex mit Kindern und Jugendlichen geht. Nun allerdings spekuliert er darüber, ob dieser nicht auf „Wechselseitigkeit“ beruht haben könnte. Womit er wohl sagen will, der Sex könnte einvernehmlich gewesen sein. Sexualkontakte mit Kindern und mit Jugendlichen in Abhängigkeitsverhältnissen sind allerdings immer strafbar, egal ob „wechselseitig“ oder nicht. Dafür gibt es gute Gründe, die wohl keiner weiteren Erläuterung bedürfen. Insgeheim weiß das auch Lutz van Dijk. Ansonsten hätte er die Missbrauchsvorwürfe nicht verschwiegen.

Ohne Frage muss man den Vorwurf der „Jugendverführung“ im Einzelfall immer kritisch hinterfragen. Dies gilt erst recht für entsprechende Verurteilungen aus der NS-Zeit. Denn der 1935 geschaffene § 175a kriminalisierte jeden „Mann über einundzwanzig Jahre, der eine männliche Person unter einundzwanzig Jahren verführt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen zu lassen“. Bestraft wurden oft auch einvernehmliche Sexualkontakte mit Jugendlichen und Heranwachsenden, die heute vollkommen legal sind. Selbst „Verführungsversuche“ wurden verfolgt: Zu einer Verurteilung kam es mitunter schon, wenn man einen Jugendlichen zum Eis einlud. Doch viele Handlungen, die nach § 175a verfolgt wurden, wären auch heute noch strafbar: So etwa Sexualkontakte zu Jugendlichen in Abhängigkeitsverhältnissen oder sexuelle Übergriffe in Form unaufgeforderter körperlicher Berührungen, die von den betroffenen Jugendlichen als Belästigung empfunden wurden. Und solche Fälle waren nicht selten, wie eine Studie zur Strafverfolgung Homosexueller in Sachsen gezeigt hat. Auch im Fall von Karl Gorath ist die Situation ziemlich klar: Die Handlungen, die ihm vorgeworfen wurden, wären auch heute noch strafrechtlich relevant.

Van Dijks „legerer“ Umgang mit historischen Fakten ist kein Einzelfall. Vielmehr ist er symptomatisch für eine schwule Erinnerungskultur, die dazu neigt, „störende“ biografische Aspekte auszublenden oder schönzureden - ähnlich wie auch beim lesbischen Gedenken. Schon vor dreißig Jahren hatte das Schwule Museum den KZ-Überlebenden Heinz Dörmer in einer Ausstellung als ein „Opfer nazistischer Strafwillkür“ inszeniert und den eigentlichen Verfolgungsgrund vernebelt: Auch Dörmer war wegen Kindesmissbrauch vorbestraft. Und auch bei Stolpersteinsetzungen wurden Verurteilungen wegen „Jugendverführung“ oder Kindesmissbrauch mitunter verschwiegen. Zurückzuführen ist diese „Verschleierungskultur“ auf die verspätete und bis heute lückenhafte Erforschung der NS-Verfolgung Homosexueller.

Da die Geschichtswissenschaft das Thema ignorierte, waren es schwule Initiativen und „Hobbyhistoriker“, die in den 1970er Jahren begannen, die „eigene“ Geschichte aufzuarbeiten. Eng verknüpft war dies mit dem damaligen Kampf gegen den § 175, der 1969 liberalisiert worden war, als Jugendschutzparagraf aber noch bis 1994 fortbestand. Der Rosa Winkel, mit dem die Nazis die Homosexuellen in den Konzentrationslagern gekennzeichnet hatten, avancierte dabei zu einem Symbol „schwulen Stolzes“, das für den aktuellen Befreiungskampf nutzbar gemacht wurde. Und so kam es, dass auch die Aufarbeitung der NS-Verfolgung in eine Schieflage geriet: Übertreibung und Dramatisierung waren verbreitet, einige Forscher sprachen von einem „Massenmord“ an Homosexuellen oder sogar von einem „Homocaust“.

Damit einher ging die Neigung, bei der Aufarbeitung von Opferbiografien „unschöne“ Aspekte auszublenden. So etwa Vorstrafen wegen „Jugendverführung“, Kindesmissbrauchs oder anderer krimineller Delikte, die auch heute strafbar wären. Dies galt nicht zuletzt für die schwulen KZ-Häftlinge, deren Biografien nicht selten zu Heldengeschichten überhöht wurden, sich bei genauerer Betrachtung aber oft als ambivalent erweisen. Denn während es bei der Strafverfolgung Homosexueller überwiegend um einvernehmliche Sexualkontakte unter Männern ging, waren von KZ-Einweisungen vor allem sogenannte „Jugendverderber“, Strichjungen und „Berufsverbrecher“ bedroht. Nach den ersten Razzien 1934/35 wurden zwar auch gewöhnliche Homosexuelle in Konzentrationslagern interniert. Später geschah dies aber nur noch in Ausnahmefällen: insbesondere dann, wenn es sich um Juden oder Oppositionelle handelte.

Der Historiker Jürgen Müller hatte bereits im Jahr 2000 am Beispiel Kölns gezeigt, dass es vor allem die „pädophilen Homosexuellen“ waren, die in die KZs deportiert wurden. Bisher hat dieser Befund kaum Beachtung gefunden – offenbar kratzt er zu sehr am Selbstbild einer Bewegung, die den Rosa Winkel einst zu ihrem Symbol gemacht hatte. Neuere Untersuchungen zu Leipzig und Frankfurt am Main untermauern aber, dass gewöhnliche Homosexuelle in der Regel nicht von KZ-Einweisungen betroffen waren.

Dass diese Forschungsergebnisse kaum beachtet werden, hängt wohl auch damit zusammen, dass sie alte Vorurteile und Klischees zu bestätigen scheinen. So etwa die Vorstellung vom schwulen „Knabenschänder“, die schon vor 1933 weit verbreitet war und die öffentlichen Debatten über eine Verschärfung des Strafrechts für „Jugendverführer“ beeinflusste. Auch die Nationalsozialisten nutzten solche Vorurteile, um die Verfolgung Homosexueller zu legitimieren. Und so verwundert es nicht, dass nun auch Lutz van Dijk auf das Stereotyp vom homosexuellen Kinderschänder verweist, um die Verschleierung von Goraths Vorstrafen zu rechtfertigen: In seinen Augen handelte es sich bei den Missbrauchsvorwürfen um „nationalsozialistische Narrative“. Mehr noch: Van Dijk insinuiert, Kindesmissbrauch sei nur ein „historisches Stereotyp“, dass es zu „demaskieren“ gelte.

Damit macht er es sich allerdings zu einfach. Denn der Umstand, dass der Missbrauchsvorwurf auch dazu genutzt wurde, Homosexuelle zu diskreditieren, bedeutet ja nicht, dass es nicht auch Fälle sexuellen Missbrauch durch Homosexuelle gegeben hätte. Wer glaubt, man könne Vorurteile bekämpfen, indem man reale Missbrauchsfälle vertuscht oder schönredet, ist auf dem Holzweg. Vielmehr liefert man damit nur die Munition für all jene, die Homosexuelle als „Kinderficker“ diffamieren.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hatte in der Gedenkstunde am 27. Januar 2023 gefordert, wir müssten „in der Erinnerungskultur neue Wege gehen“. Doch der von ihr gewählte Weg hat sich als ein Irrweg erwiesen. Die ambivalenten Aspekte von Opferbiografien einfach unter den Teppich zu kehren, ist keine Lösung. Patentrezepte gibt es für diese Frage sicherlich nicht, vielmehr kommt es auf jeden Einzelfall an. Der Fall Gorath zeigt aber, dass die in der Erinnerungskultur vorherrschende Fokussierung auf Opferbiografien moralische Grenzen hat – Grenzen, die sich auch im Gedenken an die inzwischen rehabilitierten Verfolgtengruppen der „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ zeigen werden. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Deportation in Konzentrationslager war immer Unrecht, egal aus welchen Gründen sie geschah. Im Gedenken jedoch kann man nicht einfach ignorieren, dass einige NS-Opfer zuvor auch selbst zu Tätern geworden waren.

Was folgt aus all dem? Ins Positive gewendet, könnte es zu einer Debatte darüber anregen, wie zielführend das opferzentrierte Gedenken überhaupt ist. Funktioniert das Konzept, Empathie mit Opfern zu erzeugen, um junge Menschen von dem immer wieder postulierten „Nie wieder“ zu überzeugen, überhaupt noch? Dass der erhoffte pädagogische Effekt erzielt wird, muss angesichts der Tatsache, dass homophobe und antisemitische Einstellungen gerade unter Jugendlichen weit verbreitet sind, bezweifelt werden. Was das opferzentrierte Gedenken sicherlich nicht ersetzen kann, ist Aufklärung über die Mechanismen von Herabsetzung, Diskriminierung und Verfolgung derjenigen, die in bestimmten gesellschaftlichen Situationen zu „Anderen“ stilisiert werden.

Mit der Präsentation „geschönter“ Opferbiografien stärkt man hingegen nur die Kräfte, die die deutsche Erinnerungskultur schon lange als „Schuldkult“ brandmarken. Der schwule Historiker James D. Steakley brachte diese Problematik schon vor 20 Jahren auf den Punkt: „Wie können wir den historischen Revisionisten, also all jenen Vertretern der pseudowissenschaftlichen Auschwitz-Lüge, den Vorwurf machen, sie würden Fakten verzerren oder ignorieren, solange wir selber mit historisch nicht haltbaren Tatsachen argumentieren?“ Erhört wurde seine Mahnung bis dato nicht.

Zum Autor: Dr. Alexander Zinn, Historiker, hat verschiedene Studien zur NS-Homosexuellenverfolgung veröffentlicht, so unter anderem: Aus dem Volkskörper entfernt? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus.

 

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