Viel mehr ist
über Pünjers Verhaftung, Deportation und Ermordung nicht
bekannt. Umso erstaunlicher ist es, welche Legenden sich um ihr
Schicksal ranken. Denn von einigen schwulen und lesbischen Historikern
wird sie zur Kronzeugin einer nationalsozialistischen Lesbenverfolgung
stilisiert.
Handelte
es sich um eine KZ-Einweisung aufgrund ihrer gleichgeschlechtlichen
Neigung?
Laut Rosenkranz,
Bollmann und Lorenz ist Pünjer nach heutigem Wissensstand
die einzige lesbische Frau, die wahrscheinlich allein aufgrund ihrer
gleichgeschlechtlichen Neigung in ein Konzentrationslager verbracht
wurde. Grau wendet diese Darstellung in seinem Lexikon
zur Homosexuellenverfolgung sogar ins Apodiktische, indem
er schreibt, Pünjer sei nachweisbar wegen ihrer sexuellen
Neigung zu Frauen in einem Konzentrationslager interniert und umgebracht
worden.
Auf welchen
Fakten beruhen diese Behauptungen? Die Historikerin
Claudia Schoppmann schreibt 1997 in der zweiten Auflage ihrer Dissertation,
als Haftgrund sei bei Pünjer in der Zugangsliste
asozial' mit dem Zusatz lesbisch' angegeben. Eine
Darstellung, die Rosenkranz, Bollmann und Lorenz übernehmen.
Ihnen zufolge wird Pünjer am 12. Oktober 1940 im KZ Ravensbrück
mit dem Haftgrund asozial und der Bemerkung lesbisch
als Zugang eingetragen. Doch diese Darstellung ist nicht korrekt.
Nach der im ITS-Archiv einsehbaren Zugangsliste vom 12.10.1940 wird
Pünjer in Ravensbrück als asoz. 4841 registriert
ein Vermerk lesbisch findet sich hier nicht.
Ein Haftgrund lesbisch lässt sich also nicht belegen.
Richtig ist
allerdings, dass sich auf einer am 30.11.1940 erstellten Transportliste
die Bemerkung asozial/lesbisch/ findet. Wie könnte
es zu dieser Notiz gekommen sein? Möglich ist zum Beispiel,
dass Pünjer im Lager lesbische Kontakte zu anderen Häftlingen
oder zu Aufseherinnen suchte. Dann hätte die Bemerkung auf
der Transportliste dazu gedient, das Aufsichtspersonal vor Pünjer
zu warnen. Tatsächlich standen lesbische Frauen unter dem Generalverdacht,
die Seuche der lesbischen Liebe in den Lagern weiterzuverbreiten,
wie der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß in seinen Aufzeichnungen
schrieb. Als eine besondere Gefahr betrachtete man den Verkehr
dieser Art zwischen Aufseherinnen und weiblichen Häftlingen,
den man unbedingt unterbinden wollte.
Nicht auszuschließen
ist auch, dass Pünjer schon vor ihrer Inhaftierung lesbische
Kontakte suchte. Das behauptet jedenfalls der SS-Arzt Friedrich
Mennecke in einer allerdings erst Ende 1941 angefertigten Notiz:
Verheiratete Volljüdin. Sehr aktive (kesse)
Lesbierin. Suchte fortgesetzt lesbische Lokale auf und tauschte
im Lokal Zärtlichkeiten aus. Der Wahrheitsgehalt dieser
Notiz, die der Selektion lebensunwerter Häftlinge
für die Mordaktion 14f13 diente, ist allerdings nicht mehr
zu eruieren.
In einer jüngeren
Publikation betont Schoppmann denn auch zu Recht, dass vollkommen
unklar ist, unter welchen Umständen Pünjer verhaftet wurde,
ebenso, ob sie tatsächlich lesbisch war oder lediglich
dafür gehalten wurde. Rosenkranz und Kollegen belasten
sich dagegen nicht mit solchen Feinheiten der Interpretation. Sie
unterstellen einfach, Pünjer habe gleichgeschlechtliche
Neigungen gehabt, ja mehr noch: sie sei vermutlich bei
einer Razzia in einem einschlägigen Lokal verhaftet worden.
Bemerkenswert
ist nicht nur der nachlässige Umgang mit historischen Dokumenten,
der hier zutage tritt, sondern auch, dass ein naheliegender Grund
für Pünjers Verhaftung gar nicht ernsthaft in Erwägung
gezogen wird: ihre jüdische Herkunft. Seit Kriegsbeginn dürfen
Juden ihre Wohnung abends nicht mehr verlassen, im Sommer ab 21
Uhr, im Winter ab 20 Uhr. Sollte Pünjer tatsächlich bei
einer Razzia verhaftet worden sein, und sei es in einem Lesben-Lokal,
so wäre dieser Verstoß gegen das Ausgangsverbot schon
ein hinreichender Anlass für eine Festnahme gewesen. Doch auch
das ist Spekulation, letztlich wird der Grund für Pünjers
Verhaftung wohl ungeklärt bleiben. Klar ist aber eines: Auf
einem derartig zweifelhaften Einzelfall die Theorie einer Verfolgung
lesbischer Frauen aufzubauen, ist unseriös.
Eine Verfolgung
aufgrund einer (nicht zu belegenden) lesbischen Veranlagung Pünjers
erscheint im Übrigen auch aus einem anderen Grund wenig plausibel:
Sie hätte nämlich der NS-Politik explizit widersprochen.
Denn obwohl die NS-Machthaber auch die weibliche Homosexualität
ablehnen, entscheiden sie sich bei der Verschärfung des §
175 im Jahr 1935 ganz bewusst dafür, sexuelle Handlungen unter
Frauen straffrei zu lassen. Ausdrücklich ausgeschlossen wird
auch eine Bestrafung nach dem Analogieparagrafen 2, denn mit §
175 sei klar zum Ausdruck gebracht, dass die lesbische Liebe
nicht in die Strafbarkeit einbezogen werden soll; die Tribadie kann
deshalb auch im Wege der Rechtsanalogie nicht bestraft werden,
so Regierungsrat Schäfer 1935. Und auch
bei den späteren Planungen für ein neues nationalsozialistisches
Strafrecht wird für die lesbische Liebe eine Bestrafung
nicht in Aussicht genommen. Bis heute ist denn auch kein einziger
Fall nachweisbar, in dem eine Frau wegen lesbischer Sexualkontakte
nach dem NS-Paragrafen 175 bestraft oder in ein Konzentrationslager
eingewiesen worden wäre.
Zitierte
Literatur:
Martin Broszat
(Hrsg.): Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen
des Rudolf Höss. München 1963: dtv dokumente.
Günter
Grau: Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933-1945. Institutionen,
Personen, Betätigungsfelder. Berlin 2011: Lit.
Eberhard Röhm
/ Jörg Thierfelder: Juden, Christen, Deutsche 1933-1945.
Bd. 3, Ausgestoßen, 1938-1941, Teil 2. Stuttgart 1995:
Calwer.
Bernhard Rosenkranz
/ Ulf Bollmann / Gottfried Lorenz: Homosexuellenverfolgung in
Hamburg 1919-1969. Hamburg 2009: Lambda.
Leopold Schäfer:
Die Einzelheiten der Strafgesetznovelle vom 28.6.1935. Deutsche
Justiz, Nr. 28, 12.7.1935.
Adolf Schönke:
Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Kommentar von Dr.
Adolf Schönke. München und Berlin 1944: C. H. Beck.
Claudia Schoppmann:
Nationalsozialistische
Sexualpolitik und weibliche Homosexualität. Pfaffenweiler
1997: Centaurus.
Claudia Schoppmann:
Zeit der Maskierung. Zur Situation lesbischer Frauen im Nationalsozialismus.
S. 71-93 in: Burkhard Jellonnek / Rüdiger Lautmann (Hrsg.):
Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Verdrängt
und ungesühnt. Paderborn 2002: Schöningh.
Claudia Schoppmann:
Elsa Conrad Margarete Rosenberg Mary Pünjer
Henny Schermann. Vier Porträts. S. 97-111 in: Insa Eschebach:
Homophobie und Devianz. Berlin 2012: Metropol.
Alexander Zinn:
»Aus dem Volkskörper entfernt«? Homosexuelle
Männer im Nationalsozialismus.
Frankfurt am Main 2018: Campus. Link
zum Buchtipp
Textausschnitte
zur Situation lesbischer Frauen im Nationalsozialismus.
Zitierte
Quellen:
Hessisches Hauptstaatsarchiv,
Abt. 631a, Nr. 1619.
ITS-Archiv Bad
Arolsen: Listenmaterial Ravensbrück (Zugang). Doc. No. 3761400#1.
ITS-Archiv Bad
Arolsen: Listenmaterial Ravensbrück. Doc. No. 3761423#1.
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