Mit großen
Teilen der NSDAP-Führungsriege liegt Röhm in Fragen von
Moral und Sittlichkeit über Kreuz. Und das macht er auch öffentlich
deutlich. In seiner 1928 veröffentlichten Biografie Die
Geschichte eines Hochverräters macht er keinen Hehl daraus,
dass sein Kampf auch einer gesellschaftlichen Ordnung, die
an Stelle gesunder Anerkennung natürlicher Vorgänge und
Erkenntnisse Heuchelei, Lüge, Verstellung, Prüderie und
unangebrachte Entrüstung vorschreibt, gelte. Das Thema
Homosexualität spricht Röhm allerdings nicht direkt an,
obwohl er mit dem Absatz über Moral vor allem gegen den
§ 175 kämpfen will, wie er Heimsoth am 3.12.1928
schreibt.
Dass derartige
Ausführungen in weiten Teilen der NSDAP auf wenig Gegenliebe
stoßen, ist nicht weiter verwunderlich. Röhms Ernennung
zum Stabschef der SA bringt das Fass dann zum Überlaufen. Schon
in den ersten Wochen nach seinem Dienstantritt kommt es zu zahlreichen
Beschwerden, sodass sich Hitler am 3.2.1931 genötigt sieht,
Angriffe wegen des Privatlebens verschiedener SA-Führer
und -Männer in einem Erlass zurückzuweisen: Die SA sei
keine moralische Anstalt zur Erziehung von höheren Töchtern,
sondern ein Verband rauer Kämpfer. Mit dieser Erklärung
gibt Hitler die offizielle Linie für die nächsten dreieinhalb
Jahre vor. Daran
ändern auch die Versuche der Linksparteien, Röhms Homosexualität
politisch auszuschlachten, nur wenig. Die von der sozialdemokratischen
Zeitung Münchner Post im April 1931 losgetretene Pressekampagne
gegen Röhm, in deren Verlauf seine Homosexualität in immer
schärferen und hysterischeren Worten gegeißelt wird,
wird seitens der Nationalsozialisten kaum kommentiert.
Doch intern
sorgt Röhms Homosexualität weiterhin für große
Unruhe. Im März 1932 gipfelt diese schließlich in einem
Mordkomplott. Eingefädelt von Parteirichter Walter Buch, Vorsitzender
des Untersuchungs- und Schlichtungsausschusses der NSDAP,
sollen Röhm und einige seiner Mitarbeiter im Braunen Haus umgebracht
werden. Einer der gedungenen Mörder glaubt jedoch, einer Schnapsidee
aufgesessen zu sein und vertraut sich seinem Opfer an.
Nach der Machtübernahme
der Nationalsozialisten bricht der Konflikt über das Thema
Homosexualität immer wieder auf. Als Göring im März
1933 Homosexuellenkneipen schließen lässt, scheint sich
Röhm gegen diese Maßnahme zur Wehr zu setzen. Rudolf
Diels, Leiter des am 26.4.1933 gegründeten Geheimen Staatspolizeiamtes,
berichtet jedenfalls, Röhm habe die Schließungen als
einen Hieb gegen sich gedeutet und zum Anlass einer Beschwerde
bei Hitler genommen, woraufhin dieser Diels dafür verantwortlich
gemacht habe, dass dieser dummen polizeilichen Praxis ein
Ende bereitet wird.
Röhm, nach
Hitler der zweitmächtigste Mann im neuen NS-Staat, pflegt damals
einen erstaunlich offensiven Umgang mit seiner Homosexualität.
Wie verschiedene Zeitzeugen berichten, werden in seinem Umfeld einschlägige
Partys veranstaltet. Und auch bei offiziellen Anlässen halten
sich Röhm und einige andere Homosexuelle aus seinem Umfeld
nur wenig zurück. So berichtet Bella Fromm, Gesellschaftsreporterin
des Ullstein-Verlags, in ihrem Tagebuch über einen Empfang
in der türkischen Botschaft am 30.10.1933:
Gruppenführer
Karl Ernst lag bequem ausgestreckt auf einem rosafarbenen Seidensofa,
mit den Stiefeln ruhte er auf einem Damastsessel. Er brüllte
nach mehr Champagner
Plötzlich trat Alfred Rosenberg,
der Parteipapst, auf. Gruppenführer Ernst war
gerade dabei, einen von den braunen Jünglingen auf seinen
Knien zu wiegen. Rosenberg erstarrte vor Wut bei diesem Anblick.
Ich konnte nicht verstehen, was der Parteipapst, der
wie üblich im Frack war, zwischen den Zähnen hervorzischte.
Ich hörte aber, was Röhm darauf antwortete. Er schlug
sich auf die Schenkel und brüllte: Seht nur dieses
Baltenschwein! Das Püppchen hat ja nicht einmal den Mumm
zu trinken ...
Fromms Bericht
macht deutlich, wie virulent der Konflikt um Fragen von Moral und
Sittlichkeit zwischen Röhm, dem NS-Chefideologen Rosenberg
und anderen NS-Führern ist. Eine Schlüsselfigur ist dabei
der SS-Führer Heinrich Himmler, der schon im Sommer 1933 beginnt,
Informationen über das homosexuelle Umfeld Röhms zu sammeln.
Himmler gelingt es, Hitler in dieser Frage immer weiter auf seine
Seite zu ziehen. Offenbar
überzeugt er Hitler von seiner Verschwörungstheorie einer
Unterwanderung und Zerstörung des Staates durch Homosexuelle.
So berichtet der damalige Gestapo-Chef Rudolf Diels, dass Hitler
im Januar 1934 die Anfertigung eines Berichtes über Herrn
Röhm und seine Freundschaften verlangt habe. Hitler habe
ihm erklärt, dass die Homosexualität das alte Griechenland
zugrunde gerichtet" habe. Die unmittelbare Folge des Lasters
sei, dass die widernatürliche Passion alsbald in den
Staatsgeschäften dominiere, wenn man sie walten lasse.
Tatsächlich
spielt das Thema Homosexualität bei der Ermordung von Röhm
und etwa 200 weiteren Personen eine gewichtige Rolle. Der sogenannte
Röhm-Putsch vom 30. Juni 1934 hat zwar auch mit
Konflikten um die künftige Rolle von SA und Reichswehr und
um die von Röhm geforderte soziale Revolution zu
tun. Er ist aber auch das Ergebnis tiefgreifender innerparteilicher
Konflikte um Röhms Homosexualität. Nicht ohne Grund rechtfertigt
Goebbels die Ereignisse schon am 2.7.1934 in einer Rundfunkrede
damit, die ermordeten SA-Führer hätten die ganze
Führung der Partei in den Verdacht einer schimpflichen und
ekelerregenden sexuellen Abnormität gebracht.
Der Röhm-Putsch
ist letztlich auch ein Ausdruck der Tatsache, dass sich Himmler
mit der von ihm propagierten Verschwörungstheorie zur Homosexualität
in der NS-Führung durchsetzen kann. So erklärt Hitler
die Morde vor dem Reichstag damit, dass sich allmählich
aus einer bestimmten gemeinsamen Veranlagung heraus in der SA. eine
Sekte zu bilden begann, die den Kern einer Verschwörung nicht
nur gegen die normalen Auffassungen eines gesunden Volkes, sondern
auch gegen die staatliche Sicherheit abgab. Diese Theorie
einer Unterwanderung und Zerstörung des Staates durch Homosexuelle
gehört fortan zur Staatsräson des Dritten Reiches
und löst eine historisch singuläre Verfolgungspolitik
aus, die nur wenige Monate später mit Razzien in Berliner Homosexuellenlokalen
beginnt.
Literaturtipps:
Eleanor Hancock:
Ernst Röhm. Hitler's SA chief of staff. New York 2008:
Palgrave Macmillan.
Alexander Zinn:
Die soziale Konstruktion des homosexuellen Nationalsozialisten.
Zu Genese und Etablierung eines Stereotyps. Frankfurt am Main
1997: Peter Lang.
Alexander Zinn:
»Aus dem Volkskörper entfernt«? Homosexuelle
Männer im Nationalsozialismus.
Frankfurt am Main 2018: Campus. Link
zum Buchtipp
Alexander Zinn:
Schwule
Nazis. Homosexuelle in Presse und Propaganda der Linken.
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