Rosa Winkel - Die Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus
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Richard Grune

Grafiker

Richard Grune wird am 2.8.1903 in Flensburg geboren. Er wächst in einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus auf. Schon früh interessiert er sich für das Zeichnen, an der Kunstgewerbeschule in Kiel macht er eine Ausbildung zum Gebrauchsgrafiker. 1922 wechselt Grune nach Weimar und studiert am dortigen Bauhaus, u.a. bei Klee, Kandinsky, Schlemmer und Feininger.
Nach seiner ersten Ausstellung 1926 in Kiel führt Grune in einem Zeltlager für Arbeiterkinder verschiedene Kunstprojekte durch. Dies weckt seine Begeisterung für die kunstpädagogische Arbeit, die ihn fortan nicht mehr loslässt.

In den folgenden Jahren führt Grune ein unstetes Leben, reist viel durch Deutschland und ins Ausland. Immer wieder kehrt er an das inzwischen nach Dessau übergesiedelte Bauhaus zurück. Und auch in Berlin ist Grune häufig anzutreffen. Hier kann er seine Homosexualität freier ausleben, als in den provinziellen Städten Kiel und Dessau. Doch als Grune im Februar 1933 endgültig nach Berlin zieht, ist das Ende der Freiheit schon absehbar. Ganze drei Wochen nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler verbieten die neuen Machthaber homosexuelle Lokale und Zeitschriften.


Richard Grune
Bildquelle: Schwules Museum Berlin


In Berlin hält Grune Kontakt zu alten Freunden aus der inzwischen verbotenen SPD. Er zeichnet Illustrationen für die neu gegründete, nazi-kritische Wochenzeitschrift „Blick in die Zukunft“. Doch Mitte 1934 wird auch diese Zeitung verboten. Wegen seiner Mitarbeit an dem Projekt wird Grune jedoch nicht behelligt. Ins Fadenkreuz der Nazis geriet er wegen seiner Homosexualität.

Nach der Ermordung Röhms am 30.6.1934 hat SS-Chef Heinrich Himmler freie Bahn, seine homosexuellenfeindliche Politik zu verwirklichen. Unter den Homosexuellen ahnt kaum einer, was sich da zusammenbraut. Noch werden in Berlin wilde Partys gefeiert. Auch Richard Grune gibt im Herbst 1934 zwei Feste in seiner Atelierwohnung am Hackeschen Markt. Unter den Gästen sind befreundete Künstler und Fotografen. An beiden Partys nimmt auch eine junge Dame teil: Gräfin Inga Ellen zu Bentheim. Diese Bekanntschaft soll sich für Grune und seine Gäste schon bald als äußerst verhängnisvoll erweisen.

Anfang Dezember 1934 beginnt die Gestapo schließlich, Razzien auf Homosexuelle durchzuführen. Am 1. Dezember durchsucht sie mehrere von Homosexuellen frequentierte Bars. Dabei wird auch der 19-jährige Textilmodenschüler Erwin Keferstein verhaftet. Keferstein gibt die Namen zahlreicher Bekannter preis, auch den der Gräfin Inga Ellen zu Bentheim. Diese wird am 4. Dezember zum Gestapa bestellt und als Zeugin befragt. Gräfin Bentheim, nach eigenen Angaben seit Oktober 1933 zahlendes Mitglied der SS, gibt bereitwillig Auskunft und nennt die Namen einer ganzen Reihe von Bekannten, die „homosexuell veranlagt“ seien. Eingehend berichtet sie über die Partys bei Grune. Dabei scheut die Gräfin auch nicht davor zurück, homosexuelle Handlungen, zu denen es bei der Party angeblich gekommen ist, bis ins Detail zu beschreiben.

Noch am selben Tag wird Grune festgenommen. Er gibt freimütig zu, „homosexuell veranlagt“ zu sein. Auch räumt er gegenseitige Masturbation mit verschiedenen Männern ein, was nach § 175 jedoch nicht strafbar ist. Ob Grune bei dem Verhör misshandelt wird, bleibt offen, verdächtig ist aber, dass die Vernehmung am 5. Dezember „aus besonderen Gründen abgebrochen“ wird, wie es im Protokoll heißt. Bei der zweiten Vernehmung am 12. Dezember gibt Grune dann schließlich eine „beischlafähnliche“ Handlung zu. Nur diese kann nach § 175 verfolgt werden.

In den folgenden Wochen werden allein in diesem Verfahren über 70 Männer festgenommen, insgesamt sind es bei dieser ersten Verfolgungswelle mehrere hundert Homosexuelle. Viele werden in die Konzentrationslager Columbiahaus und Lichtenburg verschleppt. Auch Grune wird nach Lichtenburg gebracht und dort fast ein halbes Jahr ohne gerichtliche Verfahren in „Schutzhaft“ gehalten. Erst am 31.5.1935 kommt er vorläufig frei.

Nach seiner Entlassung geht Grune zurück nach Berlin, im Herbst 1935 dann in seine Geburtsstadt Flensburg. Dort wird ihm schließlich der Prozess gemacht. Am 4.9.1936 verurteilt ihn das Landgericht nach § 175 zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis. Obgleich seine KZ-Haft auf die Strafe angerechnet wird, muss Grune nun erneut ins Gefängnis. Er verbüßt die restliche Strafe in Neumünster. Als im Sommer 1937 seine Entlassung ansteht, will ihn seine Lieblingsschwester Dolly dort abholen. Mit Zivilkleidung erwartet sie ihn am Gefängnistor. Dort wird ihr jedoch mitgeteilt, dass ihr Bruder von der Gestapo erneut in „Schutzhaft“ genommen worden ist.

Am 2.10.1937 wird Grune ins Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert. Er erhält die Häftlingsnummer 1296 und gehört damit zu den frühen Häftlingen des erst seit 1936 bestehenden KZ's. Grune muss einen rosa Winkel tragen. Ansonsten jedoch unterscheidet sich sein Schicksal von dem der meisten anderen Homosexuellen. Aufgrund seiner Verbindungen zur Arbeiterbewegung genießt er schon bald ein gewisses Ansehen unter den politischen Häftlingen. So trifft er in Sachsenhausen den politischen Häftling Karl Ratz wieder, den er aus Kieler Zeiten kennt. Und noch eine weitere Person ist für Grune von großer Bedeutung: Robert Oelbermann, ein ebenfalls homosexueller ehemaliger Wandervogelführer, der zwei Wochen vor Grune nach Sachsenhausen gekommen ist und über gute Kontakte zu den „Politischen“ verfügt. Über Oelbermann kann Grune zum Lagerältesten Harry Naujoks Kontakt knüpfen. Solche Beziehungen sind überlebenswichtig, weil die politischen Häftlinge die Häftlingsselbstverwaltung kontrollieren und damit über gewisse Privilegien verfügen.

Grune hat also Glück im Unglück. Seit Sommer 1939 ist er in Block 14 untergebracht, der von Oelbermann geleitet wird. Doch auch dort ist der Terror der SS oft unerträglich. So wird Grune dem sogenannten „Stehkommando“ zugeteilt, in dem die Häftlinge den ganzen Tag strammstehen müssen. Aufgrund seines hohen Ansehens unter den Mithäftlingen wird er von diesen mitten im Stehkommando versteckt. So kommt es, dass er auf dem Boden kauernd, verborgen vor den Blicken der SS, ein Lagerliederbuch anfertigen kann.

Anfang April 1940 wird Block 14 aufgelöst. Richard Grune wird gemeinsam mit einigen anderen homosexuellen Häftlingen nach Flossenbürg verlegt. Auch dies erweist sich als Glücksfall. Denn so entgeht Grune der Mordaktion vom Sommer 1942, der damals fast alle homosexuellen Häftlinge in Sachsenhausen zum Opfer fallen. Im Außenlager Klinkerwerk werden von Juli bis September mindestens 200 schwule Männer ermordet.

Grune kommt am 5.4.1940 im Konzentrationslager Flossenbürg an. Wie es ihm in den folgenden Jahren ergeht, darüber ist nicht viel bekannt. Aus Grunes Registrierung in Flossenbürg ergibt sich, dass er zeitweise Funktionshäftling gewesen sein könnte. Vielleicht hat er in einer Schreibstube arbeiten können. Gemeinsam mit dem ebenfalls homosexuellen Häftling Albert Christel soll Grune im Auftrag der SS Gedichte und Zeichnungen erstellt haben, teilweise in einem extra eingerichteten Künstlerkommando.

Ein Bericht von Grunes Schwester zeigt aber auch, wie katastrophal selbst die Situation eines vergleichsweise privilegierten Häftlings wie Grune war. So erzählte Grune seiner Schwester, er habe im Lager eine Zeitlang zu den Sterbekandidaten gehört: „Diejenigen nämlich, von denen man annahm, sie würden die Nacht nicht überleben, seien von den anderen am Abend vor der Baracke abgelegt worden, da die Baracken stets überbelegt waren und so ein wenig Platz und Luft geschaffen wurde. Wer am Morgen noch lebte, sei dann wieder in die Baracke gebracht worden. Er selber habe sich als Todeskandidat mit letzter Willensanstrengung, an der Barackenwand liegend, zum Zeichnen gezwungen, er habe sich zeichnend am Leben gehalten und sich dabei immer wieder gesagt, er wolle solange leben, bis Hitler zugrunde gegangen sei.“

Im April 1945 rücken die Amerikaner auf Flossenbürg zu. Die Nazis versuchen, sämtliche Spuren zu verwischen und das Konzentrationslager zu evakuieren. Am 20. April werden 14.000 Häftlinge zu einem Todesmarsch nach Dachau zusammengestellt. 4.000 Menschen kommen bei dem Marsch ums Leben. Grune jedoch gelingt die Flucht, noch bevor der Häftlingstreck von den Amerikanern befreit wird. Er schlägt sich nach Kiel durch, zu seiner Schwester Dolly. Seine Schwester und seine Eltern hatten Grune all die Jahre unterstützt. In Kiel sollte zwar keiner wissen, dass der Sohn im Konzentrationslager war. Doch über Deckadressen in Berlin und Dänemark schickte Grunes Vater Briefe und Pakete ins Konzentrationslager.

Nach der Befreiung lebt Grune zunächst in Flensburg. Er beginnt, seine Erlebnisse künstlerisch aufzuarbeiten. Es entstehen verschiedene Zeichnungen und Lithographien, die die Schrecken der Konzentrationslager darstellen. Grune präsentiert seine Werke bei Ausstellungen in Kiel, Frankfurt und Dachau. 1947 veröffentlichte er einen Teil der Lithographien unter dem Titel „Passion des XX. Jahrhunderts“.

Grune ist einer der wenigen Homosexuellen, die nach 1945 über ihre Erlebnisse berichten. Die meisten anderen schweigen. Denn für die Homosexuellen ist die Verfolgung mit der Befreiung vom Nationalsozialismus keineswegs beendet. Der § 175 besteht in der Bundesrepublik in der von den Nazis verschärften Fassung bis 1969 unverändert fort. Folgerichtig werden auch die homosexuellen KZ-Häftlinge nicht als Verfolgte anerkannt. Im offiziellen Gedenken ist für sie kein Platz.

Grune bemüht sich deswegen um eine Anerkennung als politisch Verfolgter. Von den ehemaligen politischen Mithäftlingen Karl Ratz und Harry Naujoks erbittet er sich Ehrenerklärungen. Seine Verfolgung nach § 175 versucht er als bloßen Vorwand für eine in Wahrheit politisch motivierte Verfolgung darzustellen. Es ist unklar, ob Grunes Bemühungen erfolgreich sind. Doch es bestehen große Zweifel. Denn Grune führt weiterhin ein relativ offen homosexuelles Leben und es gibt Hinweise, dass er deswegen auch wieder mit der Justiz in Konflikt gerät. Im Juli 1949 verlässt er Deutschland, um in Barcelona zu leben. Wahrscheinlich ist es das weiterhin äußerst homosexuellenfeindliche Klima, das ihn aus Deutschland vertreibt.

Grune bleibt Zeit seines Lebens ein Außenseiter. Auch nach dem Krieg lebt er am Rande des Existenzminimums, unterstützt von Freunden und der Familie. Ende der 50er Jahre muss er aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten nach Deutschland zurückkehren. Er lebt in Hamburg, schlägt sich als Bau-Hilfsarbeiter durch, gibt die Kunst aber nie auf.

Die Anfänge einer neuen Schwulenbewegung kann Grune seit Anfang der siebziger Jahre verfolgen – vielleicht ist es ihm eine späte Genugtuung. Die Anerkennung der Homosexuellen als Opfer des NS-Terrors erlebt er nicht mehr. Richard Grune stirbt am 26.11.1983 in einem Pflegeheim in Kiel.


Literaturtipps:

Andreas Sternweiler: "... er habe sich zeichnend am Leben erhalten". Der Künstler Richard Grune. S. 190-206 in: Müller / Sternweiler: Homosexuelle Männer im KZ Sachsenhausen. Berlin 2000: Rosa Winkel.

Alexander Zinn: »Aus dem Volkskörper entfernt«? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus.
Frankfurt am Main 2018: Campus. Link zum Buchtipp

© Alexander Zinn 2017