In Berlin hält
Grune Kontakt zu alten Freunden aus der inzwischen verbotenen SPD.
Er zeichnet Illustrationen für die neu gegründete, nazi-kritische
Wochenzeitschrift Blick in die Zukunft. Doch Mitte 1934
wird auch diese Zeitung verboten. Wegen seiner Mitarbeit an dem
Projekt wird Grune jedoch nicht behelligt. Ins Fadenkreuz der Nazis
geriet er wegen seiner Homosexualität.
Nach der Ermordung
Röhms am 30.6.1934 hat SS-Chef Heinrich Himmler freie Bahn,
seine homosexuellenfeindliche Politik zu verwirklichen. Unter den
Homosexuellen ahnt kaum einer, was sich da zusammenbraut. Noch werden
in Berlin wilde Partys gefeiert. Auch Richard Grune gibt im Herbst
1934 zwei Feste in seiner Atelierwohnung am Hackeschen Markt. Unter
den Gästen sind befreundete Künstler und Fotografen. An
beiden Partys nimmt auch eine junge Dame teil: Gräfin Inga
Ellen zu Bentheim. Diese Bekanntschaft soll sich für Grune
und seine Gäste schon bald als äußerst verhängnisvoll
erweisen.
Anfang Dezember
1934 beginnt die Gestapo schließlich, Razzien auf Homosexuelle
durchzuführen. Am 1. Dezember durchsucht sie mehrere von Homosexuellen
frequentierte Bars. Dabei wird auch der 19-jährige Textilmodenschüler
Erwin Keferstein verhaftet. Keferstein
gibt die Namen zahlreicher Bekannter preis, auch den der Gräfin
Inga Ellen zu Bentheim. Diese wird am 4. Dezember zum Gestapa bestellt
und als Zeugin befragt. Gräfin Bentheim, nach eigenen Angaben
seit Oktober 1933 zahlendes Mitglied der SS, gibt bereitwillig Auskunft
und nennt die Namen einer ganzen Reihe von Bekannten, die homosexuell
veranlagt seien. Eingehend berichtet sie über die Partys
bei Grune. Dabei scheut die Gräfin auch nicht davor zurück,
homosexuelle Handlungen, zu denen es bei der Party angeblich gekommen
ist, bis ins Detail zu beschreiben.
Noch am selben
Tag wird Grune festgenommen. Er gibt freimütig zu, homosexuell
veranlagt zu sein. Auch räumt er gegenseitige Masturbation
mit verschiedenen Männern ein, was nach § 175 jedoch nicht
strafbar ist. Ob Grune bei dem Verhör misshandelt wird, bleibt
offen, verdächtig ist aber, dass die Vernehmung am 5. Dezember
aus besonderen Gründen abgebrochen wird, wie es
im Protokoll heißt. Bei der zweiten Vernehmung am 12. Dezember
gibt Grune dann schließlich eine beischlafähnliche
Handlung zu. Nur diese kann nach § 175 verfolgt werden.
In den folgenden
Wochen werden allein in diesem Verfahren über 70 Männer
festgenommen, insgesamt sind es bei dieser ersten Verfolgungswelle
mehrere hundert Homosexuelle. Viele werden in die Konzentrationslager
Columbiahaus und Lichtenburg verschleppt. Auch Grune wird nach Lichtenburg
gebracht und dort fast ein halbes Jahr ohne gerichtliche Verfahren
in Schutzhaft gehalten. Erst am 31.5.1935 kommt er vorläufig
frei.
Nach seiner
Entlassung geht Grune zurück nach Berlin, im Herbst 1935 dann
in seine Geburtsstadt Flensburg. Dort wird ihm schließlich
der Prozess gemacht. Am 4.9.1936 verurteilt ihn das Landgericht
nach § 175 zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis. Obgleich
seine KZ-Haft auf die Strafe angerechnet wird, muss Grune nun erneut
ins Gefängnis. Er
verbüßt die restliche Strafe in Neumünster. Als
im Sommer 1937 seine Entlassung ansteht, will ihn seine Lieblingsschwester
Dolly dort abholen. Mit Zivilkleidung erwartet sie ihn am Gefängnistor.
Dort wird ihr jedoch mitgeteilt, dass ihr Bruder von der Gestapo
erneut in Schutzhaft genommen worden ist.
Am 2.10.1937
wird Grune ins Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert. Er
erhält die Häftlingsnummer 1296 und gehört damit
zu den frühen Häftlingen des erst seit 1936 bestehenden
KZ's. Grune muss einen rosa Winkel tragen. Ansonsten jedoch unterscheidet
sich sein Schicksal von dem der meisten anderen Homosexuellen. Aufgrund
seiner Verbindungen zur Arbeiterbewegung genießt er schon
bald ein gewisses Ansehen unter den politischen Häftlingen.
So trifft er in Sachsenhausen den politischen Häftling Karl
Ratz wieder, den er aus Kieler Zeiten kennt. Und noch eine weitere
Person ist für Grune von großer Bedeutung: Robert
Oelbermann, ein ebenfalls homosexueller ehemaliger Wandervogelführer,
der zwei Wochen vor Grune nach Sachsenhausen gekommen ist und über
gute Kontakte zu den Politischen verfügt. Über
Oelbermann kann Grune zum Lagerältesten Harry Naujoks Kontakt
knüpfen. Solche Beziehungen sind überlebenswichtig, weil
die politischen Häftlinge die Häftlingsselbstverwaltung
kontrollieren und damit über gewisse Privilegien verfügen.
Grune hat also
Glück im Unglück. Seit Sommer 1939 ist er in Block 14
untergebracht, der von Oelbermann geleitet wird. Doch auch dort
ist der Terror der SS oft unerträglich. So wird Grune dem sogenannten
Stehkommando zugeteilt, in dem die Häftlinge den
ganzen Tag strammstehen müssen. Aufgrund seines hohen Ansehens
unter den Mithäftlingen wird er von diesen mitten im Stehkommando
versteckt. So kommt es, dass er auf dem Boden kauernd, verborgen
vor den Blicken der SS, ein Lagerliederbuch anfertigen kann.
Anfang April
1940 wird Block 14 aufgelöst. Richard Grune wird gemeinsam
mit einigen anderen homosexuellen Häftlingen nach Flossenbürg
verlegt. Auch dies erweist sich als Glücksfall. Denn so entgeht
Grune der Mordaktion vom Sommer 1942, der damals fast alle homosexuellen
Häftlinge in Sachsenhausen zum Opfer fallen. Im Außenlager
Klinkerwerk werden von Juli bis September mindestens 200 schwule
Männer ermordet.
Grune kommt
am 5.4.1940 im Konzentrationslager Flossenbürg an. Wie es ihm
in den folgenden Jahren ergeht, darüber ist nicht viel bekannt.
Aus Grunes Registrierung in Flossenbürg ergibt sich, dass er
zeitweise Funktionshäftling gewesen sein könnte. Vielleicht
hat er in einer Schreibstube arbeiten können. Gemeinsam mit
dem ebenfalls homosexuellen Häftling Albert Christel soll Grune
im Auftrag der SS Gedichte und Zeichnungen erstellt haben, teilweise
in einem extra eingerichteten Künstlerkommando.
Ein Bericht
von Grunes Schwester zeigt aber auch, wie katastrophal selbst die
Situation eines vergleichsweise privilegierten Häftlings wie
Grune war. So erzählte Grune seiner Schwester, er habe im Lager
eine Zeitlang zu den Sterbekandidaten gehört: Diejenigen
nämlich, von denen man annahm, sie würden die Nacht nicht
überleben, seien von den anderen am Abend vor der Baracke abgelegt
worden, da die Baracken stets überbelegt waren und so ein wenig
Platz und Luft geschaffen wurde. Wer am Morgen noch lebte, sei dann
wieder in die Baracke gebracht worden. Er selber habe sich als Todeskandidat
mit letzter Willensanstrengung, an der Barackenwand liegend, zum
Zeichnen gezwungen, er habe sich zeichnend am Leben gehalten und
sich dabei immer wieder gesagt, er wolle solange leben, bis Hitler
zugrunde gegangen sei.
Im April 1945
rücken die Amerikaner auf Flossenbürg zu. Die Nazis versuchen,
sämtliche Spuren zu verwischen und das Konzentrationslager
zu evakuieren. Am 20. April werden 14.000 Häftlinge zu einem
Todesmarsch nach Dachau zusammengestellt. 4.000 Menschen kommen
bei dem Marsch ums Leben. Grune jedoch gelingt die Flucht, noch
bevor der Häftlingstreck von den Amerikanern befreit wird.
Er schlägt sich nach Kiel durch, zu seiner Schwester Dolly.
Seine
Schwester und seine Eltern hatten Grune all die Jahre unterstützt.
In Kiel sollte zwar keiner wissen, dass der Sohn im Konzentrationslager
war. Doch über Deckadressen in Berlin und Dänemark schickte
Grunes Vater Briefe und Pakete ins Konzentrationslager.
Nach der Befreiung
lebt Grune zunächst in Flensburg. Er beginnt, seine Erlebnisse
künstlerisch aufzuarbeiten. Es entstehen verschiedene Zeichnungen
und Lithographien, die die Schrecken der Konzentrationslager darstellen.
Grune präsentiert seine Werke bei Ausstellungen in Kiel, Frankfurt
und Dachau. 1947 veröffentlichte er einen Teil der Lithographien
unter dem Titel Passion des XX. Jahrhunderts.
Grune ist einer
der wenigen Homosexuellen, die nach 1945 über ihre Erlebnisse
berichten. Die meisten anderen schweigen. Denn für die Homosexuellen
ist die Verfolgung mit der Befreiung vom Nationalsozialismus keineswegs
beendet. Der § 175 besteht in der Bundesrepublik in der von
den Nazis verschärften Fassung bis 1969 unverändert fort.
Folgerichtig werden auch die homosexuellen KZ-Häftlinge nicht
als Verfolgte anerkannt. Im offiziellen Gedenken ist für sie
kein Platz.
Grune bemüht
sich deswegen um eine Anerkennung als politisch Verfolgter. Von
den ehemaligen politischen Mithäftlingen Karl Ratz und Harry
Naujoks erbittet er sich Ehrenerklärungen. Seine Verfolgung
nach § 175 versucht er als bloßen Vorwand für eine
in Wahrheit politisch motivierte Verfolgung darzustellen. Es ist
unklar, ob Grunes Bemühungen erfolgreich sind. Doch es bestehen
große Zweifel. Denn Grune führt weiterhin ein relativ
offen homosexuelles Leben und es gibt Hinweise, dass er deswegen
auch wieder mit der Justiz in Konflikt gerät. Im Juli 1949
verlässt er Deutschland, um in Barcelona zu leben. Wahrscheinlich
ist es das weiterhin äußerst homosexuellenfeindliche
Klima, das ihn aus Deutschland vertreibt.
Grune bleibt
Zeit seines Lebens ein Außenseiter. Auch nach dem Krieg lebt
er am Rande des Existenzminimums, unterstützt von Freunden
und der Familie. Ende der 50er Jahre muss er aufgrund von finanziellen
Schwierigkeiten nach Deutschland zurückkehren. Er lebt in Hamburg,
schlägt sich als Bau-Hilfsarbeiter durch, gibt die Kunst aber
nie auf.
Die Anfänge
einer neuen Schwulenbewegung kann Grune seit Anfang der siebziger
Jahre verfolgen vielleicht ist es ihm eine späte
Genugtuung. Die Anerkennung der Homosexuellen als Opfer des NS-Terrors
erlebt er nicht mehr. Richard Grune stirbt am 26.11.1983 in einem
Pflegeheim in Kiel.
Literaturtipps:
Andreas Sternweiler:
"... er habe sich zeichnend am Leben erhalten". Der Künstler
Richard Grune. S. 190-206 in: Müller / Sternweiler: Homosexuelle
Männer im KZ Sachsenhausen. Berlin 2000: Rosa Winkel.
Alexander Zinn:
»Aus dem Volkskörper entfernt«? Homosexuelle
Männer im Nationalsozialismus.
Frankfurt am Main 2018: Campus. Link
zum Buchtipp
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