Schwule Nazis - Homosexuelle in Presse und Propaganda der Linken
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NS-Verfolgung Homosexueller
 
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Differenzierung des Stereotyps

Die Saar-Abstimmung wurde zu einer der größten Niederlagen der Emigranten. Über neunzig Prozent stimmten für den Anschluß an das "Dritte Reich". Die antifaschistische Propaganda war erfolglos geblieben, und das Bild vom Dritten Reich der Homosexuellen hatte seinen propagandistischen Wert eingebüßt. Für das Gros der Exilpresse war das Thema Razzien und Verhaftungen mit der Abstimmungsniederlage abgehakt.

Doch es gab auch andere Stimmen. Noch während der Propagandaschlacht veröffentlichte der Schriftsteller Klaus Mann einen Artikel, in dem er die Manipulationen der Exilpresse anprangerte:

"Man ist im Begriffe, aus 'dem' Homosexuellen den Sündenbock zu machen - 'den' Juden der Antifascisten. Das ist abscheulich. Mit ein paar Banditen die erotische Veranlagung gemeinsam zu haben, macht noch nicht zum Banditen."

Manns scharfe Kritik war der Auftakt zu einer differenzierteren Betrachtung der Verhältnisse. Im Pariser Tageblatt konnte "Expertus" Anfang Januar 1935 über "die 'Ausrottung' der Homosexuellen im Dritten Reich" berichten. Und auch andere Exilzeitungen nahmen in den folgenden Monaten die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung zur Kenntnis. Doch damit verschwand das Stereotyp von den schwulen Nazis keineswegs. In der antifaschistischen Propaganda spielte es zwar keine große Rolle mehr. Doch aus den Köpfen der Emigranten war es nicht so einfach zu tilgen.

Und so wurde immer wieder versucht, den nun offensichtlichen Widerspruch zwischen Stereotyp und Realität zu erklären. Im Sommer 1935 bot der Journalist Julius Epstein eine elegante Lösung an. Die Homosexuellenverfolgung, meinte er, solle nur Oppositionelle treffen. Entsprechend verstand er auch die Verschärfung des § 175, nach der Tatbeteiligte unter 21 Jahren in "besonders leichten Fällen" straffrei ausgehen sollten:

"Hat er [der Richter] z. b. zwei oder mehrere gesinnungstüchtige Hitlerjungen vor sich, die vielleicht von nicht nationalsozialistischer Seite angezeigt wurden - soweit dies überhaupt in Deutschland denkbar ist - so kann er selbst bei klarstem Tatbestand stets durch Annahme eines besonders leichten Falls freisprechen."

Epsteins Interpretation der NS-Homosexuellenverfolgung als Strategie zur Ausschaltung politischer Gegner war zukunftsweisend. In den fünfziger und sechziger Jahren war sie in der Bundesrepublik sehr populär. Eine wirkliche Homosexuellenverfolgung sollte es nie gegeben haben. Und diese These war äußerst praktisch: eine Rehabilitierung der Opfer erübrigte sich damit ebenso, wie eine Abschaffung des weiterhin in der verschärften NS-Version gültigen Paragraphen 175.

© Alexander Zinn 2017