Am
frühen Morgen des 30. Juni 1934 ließ Hitler seinen SA-Chef
Röhm verhaften. Noch am gleichen Tag wurde eine reichsweite Verhaftungs-
und Hinrichtungswelle eingeleitet. Röhm wurde am 1.7.1934 erschossen.
Hintergrund der Morde waren vor allem Streitigkeiten über die
künftige Rolle der SA und die von ihr geforderte Änderung
der Wirtschaftspolitik. Gegenüber der Öffentlichkeit wurden
die Morde jedoch mit einem angeblich bevorstehenden SA-Putsch gerechtfertigt.
Die "Putschvorbereitungen" wurden dabei immer wieder mit
der "unglücklichen Veranlagung" einiger SA-Führer
in Zusammenhang gebracht. So verteidigte Hitler die Morde vor dem
Reichstag folgendermaßen:
"Das Schlimmste
aber war, daß sich allmählich aus einer bestimmten gemeinsamen
Veranlagung heraus in der SA. eine Sekte zu bilden begann, die den
Kern einer Verschwörung nicht nur gegen die normalen Auffassungen
eines gesunden Volkes, sondern auch gegen die staatliche Sicherheit
abgab."
Die Verknüpfung
der angeblichen Putsch-Absichten mit einer homosexuellen Verschwörung
markierte einen Wendepunkt in der offiziellen NS-Politik gegenüber
Homosexuellen. Die Homophobie großer Teile der NSDAP-Mitgliedschaft
erfuhr nun nicht nur ihre offizielle Bestätigung, sie wurde
darüber hinaus in eine Verschwörungstheorie eingebunden,
die fortan die theoretische Grundlage der nationalsozialistischen
Homosexuellenverfolgung bildete.
Wie reagierte
die Exilpresse? Die Kronzeugen der Theorie vom Dritten Reich der
Homosexuellen waren ermordet. Die nationalsozialistischen Haßtiraden
waren unüberhörbar. War es da nicht an der Zeit, das absurde
Deutschlandbild zu korrigieren? Nicht in den Augen der Emigranten.
Sie handelten getreu dem sozialistischen Wahlspruch "Vorwärts
immer, Rückwärts nimmer". Die sozialdemokratische
Exilzeitung Neuer Vorwärts freute sich über die Bestätigung
der "viele Jahre lang wohlbegründet und wohlbewiesen"
erhobenen Vorwürfe gegen Röhm. Und den homophoben Haßtiraden
der Nazis begegnete man mit einem Griff in die Mottenkiste. Wie
schon bei der "Röhm-Affäre" rief man auch nun
wieder: "Heuchelei". Aber dieser Vorwurf hinkte, daran
konnte die Exilpresse nicht vorbei. Daß man es auch nach dem
Röhm-Putsch noch mit einem "Dritten Reich der Homosexuellen"
zu tun hatte, mußte erst bewiesen werden. Und so machte man
sich auf die Suche nach neuen Kronzeugen. Als eine der ersten Exilzeitungen
versuchte der Neue Vorwärts, den Heucheleivorwurf mit der Nennung
neuer Namen zu untermauern:
"Zwar bliebe,
wenn alle Homosexuellen aus der SA-Mannschaft und aus der SA-Führung
entfernt würden, nur noch ein jämmerliches Häufchen
übrig; zwar ist, obgleich es einen § 175 gibt, Minister
Heß heute noch . . . [Hitlers] Stellvertreter; Baldur von
Schirach heute noch Jugendführer, Herr Kaufmann heute noch
Statthalter von Hamburg, Helmut Bruckner heute noch Oberpräsident
in Breslau, Koslo heute noch Gauleiter der SA in Liegnitz; zwar
ist es unter den deutschen Bühnenangehörigen allgemein
bekannt, daß im Dritten Reiche nur die 'unglücklich Veranlagten'
eine gute Theaterkarriere machen; zwar herrschen in der Hitlerjugend
erschreckende Zustände, abertausend Gruppen sind Schulen der
Homosexualität."
Andere Exilzeitungen
zogen nach. Die 'Beschuldigten' waren fast immer die selben, doch
nicht überall wurden sie so laut tönend 'enttarnt', wie
im Neuen Vorwärts. Die Neue Weltbühne arbeitete lieber
mit bewährten Klischees. Heinz Pol, ein unorthodoxer Kommunist,
der zu Röhms Homosexualität noch eine erstaunlich liberale
Position eingenommen hatte, enttarnte Baldur von Schirach nun folgendermaßen:
"Ein fetter, weiblicher Bursche mit entsprechenden Neigungen".
Auch ein Waldemar Grimm - vermutlich ein Pseudonym - arbeitete mit
dem Klischee vom weibischen Schwulen. Sein Opfer war Rudolf Heß:
"In rauher deutscher Männertafelrunde nennen sie ihn Frau
Hitler", wußte Grimm zu berichten. Die Begegnung mit
Hitler sei für Heß die "Schicksalswende seines Lebens"
gewesen, Hitler sei zu "seinem Angebeteten" geworden.
Schließlich seien die beiden "zu einer Seelengemeinschaft"
zusammengewachsen, Hitler nenne Heß "in seinen Memoiren"
gar "zärtlich beim Kosenamen Maurice".
In den Augen
der Exilpresse ging die Strategie der 'Enttarnung' homosexueller
Nazis auf. Der Vorwurf der Heuchelei erschien nun plausibel. Man
befreite sich aus der unangenehmen Allianz der moralischen Empörung,
die, wie 'erwiesen' wurde, nur vordergründig zwischen Nationalsozialisten
und dem Gros der Emigranten bestand. Und schließlich rettete
man das liebgewonnene Stereotyp vom homosexuellen Nazi. Entsprechend
stolz zog die New Yorker Exilzeitung Neue Volks-Zeitung denn auch
Bilanz:
"Es mag
im Dritten Reich auch jetzt noch Unentwegte geben, die ihm glauben,
die Presse des Auslands hat dem deutschen Kanzler klar und deutlich
die Namen jener Führer genannt, von denen feststeht, dass sie
den gleichen Passionen mit derselben Hemmungslosigkeit frönen.
Und die fester im Sattel sitzen, die heute stolzer in Amt und Würden
sind denn je."
Das Dritte Reich
der Homosexuellen hatte mit dem "Röhm-Putsch" seine
Feuertaufe überstanden. Und die Emigranten hatten jeglichen
Bezug zur Realität verloren. Es konnte weiter gebastelt werden.
Die Möglichkeiten waren nahezu unbegrenzt, wie die Sex-Pol
bewies. 1931 als Sexualreformorganisation der KPD entstanden, orientierte
sie sich im dänischen Exil an den Theorien des KPD-Renegaten
Wilhelm Reich. Und so wurde die SA zur 'Schule der Homosexualität'
erklärt:
"Sie selbst
[die Nationalsozialisten] sind es doch, die durch den Aufbau der
SA in dieser Truppe die Homosexualität geradezu erzeugten und
züchteten. . . . Kein Wunder, wenn Menschen, die schon von
vorneherein homosexuell veranlagt sind, eine Institution wie die
SA ausnützen, um zu Führerstellungen zu gelangen und diese
dann im Sinne ihrer Neigungen missbrauchen."
Die Sex-Pol
trieb Wilhelm Reichs Theorie auf die Spitze. Eine Verbreitung der
Homosexualität, so ihre Lesart, sei ganz im Sinne der Nationalsozialisten.
Nicht nur, weil "die so homosexuell und sadistisch umgebauten
Männer" skrupellos die von ihnen erwarteten Gewalttaten
begingen, sondern auch, "weil die Homosexualität eine
ausserordentlich starke psychische Verankerung der faschistischen
Ideologie darstellt".
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