Schwule Nazis - Homosexuelle in Presse und Propaganda der Linken
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NS-Verfolgung Homosexueller
 
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Die Reaktionen in der Exilpresse

Die Nachrichten über die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung stellten das Stereotyp von den schwulen Nazis schließlich substantiell in Frage. Doch die Exilpressse stellte sich blind und taub: sie interpretierte die Razzien als Verfolgung oppositioneller Nationalsozialisten. Warum? Zum einen paßte diese Interpretation in das liebgewonnene Bild vom Dritten Reich der Homosexuellen. Zum anderen eignete sie sich hervorragend für die bevorstehende Propagandaschlacht. Am 13.1.1935 wurde über den zukünftigen Status des Saarlandes, das seit 1919 vom Völkerbund verwaltet wurde, abgestimmt. Die Abstimmung über einen Anschluß an Deutschland war auch eine Abstimmung über das "Dritte Reich". In dieser Situation hatte die antifaschistische Propaganda oberste Priorität. Und mit Nachrichten über die angebliche Zerissenheit der NS-Bewegung hoffte man Punkte zu machen.

Die Verhaftungen eigneten sich hervorragend dazu, andere Nachrichten aus Deutschland zu dramatisieren und damit den gewünschten Eindruck hervorzurufen, daß das "Dritte Reich" kurz vor dem Zusammenbruch stehe. Bereits in den ersten Dezembertagen nahmen verschiedene Exilzeitungen personelle Umbesetzungen innerhalb der NS-Verwaltung zum Anlaß, einen "trockenen", das heißt unblutigen "30. Juni" zu prophezeien. Und schon in der ersten Meldung über die Razzien wurden Auseinandersetzungen innerhalb der NSDAP angedeutet. In den Homosexuellenlokalen, so das Pariser Tageblatt, habe man gehofft, "Leute aus dem Kreis der am 30. Juni Ermordeten zu finden".

Die Ausschlachtung der Razzien für den Saar-Abstimmungskampf begann am 15.12.1934. Die sozialdemokratischen Tageszeitungen Deutsche Freiheit und Volksstimme veröffentlichten zwei Artikel, die schließlich zu einer radikalen Umbewertung der Razzien führten. Obwohl in beiden Artikeln weiterhin die Verhaftung Homosexueller eingeräumt wurde, sollte es sich hierbei nun eigentlich um "eine groß angelegte Polizeijagd gegen oppositionelle junge Nationalsozialisten" handeln. Wie schon beim "Röhm-Putsch" wertete man die Nachrichten über Homosexuellenverhaftungen als den Versuch, die "rein politische Aktion in der Art des moralischen Entrüstungsgetues nach dem 30. Juni als eine sittliche Säuberungsaktion zu tarnen". Auf welchen Informationen diese Umbewertung tatsächlich beruhte, enthüllen folgende Ausführungen der Deutschen Freiheit:

"Mit vielsagendem Lächeln wird vermerkt, daß ein großer Teil der jungen politischen Räsoneure in die Arbeitsdienstlager gebracht werden sollen. Wenn es sich wirklich um Homosexuelle handelte, wäre das eine sehr verfehlte Kur, denn die Arbeitsdienstlager sind nicht weniger als die Hitlerjugend und die SA. und die SS. Brutstätten invertierter Sexualität."

Die Information über geplante Einweisungen in "Arbeitsdienstlager" ging auf die Meldung der National-Zeitung zurück, ein "großer Teil der Verhafteten" habe "mit der Ueberführung ins Arbeitsdienstlager zu rechnen."[1] Bemerkenswert, wie die auf einem telefonischen Korrespondentenbericht basierende Mitteilung der National-Zeitung in eine offizielle, mit "vielsagendem Lächeln" verkündete, umgedeutet wurde. Fakt ist: zu diesem Zeitpunkt gab es keine amtlichen Stellungnahmen aus Deutschland. Erst am 28.12.1934 bestätigte das gleichgeschaltete Deutsche Nachrichten-Büro (DNB) die Verhaftungen.

Die Deutsche Freiheit hatte keine anderen Informationen als den Bericht der National-Zeitung über die "nächtliche Razzia auf Homosexuelle". Die "Polizeijagd gegen oppositionelle junge Nationalsozialisten" war eine Erfindung. Um Zweifel zu zerstreuen, nutzte die Deutsche Freiheit ein bereits beim "Röhm-Putsch" bewährtes Argument. Die vorgebliche Homosexualität der höchsten NS-Führer sollte eine antihomosexuelle Aktion unglaubwürdig erscheinen lassen:

"Man fragt sich übrigens, warum, wenn eine sittliche Reinigung vorgenommen werden soll, die Säuberung nicht von ganz oben beginnt. Es erhalten sich die Gerüchte, daß homosexuelle Betätigung noch immer in den höchsten Kreisen der Hitlerjugend und auch in der allernächsten Umgebung des 'Führers' anzutreffen ist. Diese Herren, so erzählt man sich allgemein, würden nur geschont, weil sie hitlertreue Politik betrieben."

Da sich die NS-Führung fast gänzlich aus Homosexuellen zusammensetzte, so die Logik der Deutschen Freiheit, mußte es unter den homosexuellen Nationalsozialisten oppositionelle und hitlertreue geben. Folglich war eine Verhaftung Homosexueller auch nur als Schlag gegen Oppositionelle innerhalb der NSDAP zu deuten.

Mit der Integration der Razzien in das Konstrukt "trockener 30. Juni" wollten Deutsche Freiheit und Volksstimme den nahenden Zusammenbruch des "Dritten Reiches" erweisen. Daß die angebliche Ausschaltung der Opposition kurz vor der Saar-Abstimmung stattfand, geriet dabei zum Beweis des maroden Zustands des NS-Regimes. So schrieb die Deutsche Freiheit: "Es zeigt sich jeden Tag mehr, wie schwer es für Hitler ist, die geplante umfassende Ausschaltung aller oppositionellen Kräfte in der Bewegung bis nach der Saarabstimmung am 13. Januar zu vertagen." Noch besser hätte der Exilpresse allerdings ein richtiger "30. Juni", bei dem auch Blut floß, ins Propagandakonzept gepaßt. Die Volksstimme schraubte die Erwartungen der Leser entsprechend in die Höhe:

"Nur die Rücksicht auf die Saarabstimmung hält von einer blutigen Abrechung nach dem Muster des 30. Juni ab. Man versucht vorläufig mit Verhaftungen und mit der Difamierung der Gegner auszukommen. Vielleicht wird das bis zum 13. Januar gelingen. Um so schrecklicher wird das Blutbad nach dem 13. Januar sein."

Mit den Artikeln von Volksstimme und Deutscher Freiheit war die Wende in der Interpretation der Razzien eingeleitet. Das Gros der Exilperiodika schwenkte nun auf die von den beiden Zeitungen vorgezeichnete Linie ein. So zum Beispiel das Pariser Tageblatt. Hatte es zunächst über Razzien in Lokalen, "in denen Homosexuelle zu verkehren pflegen" berichtet, so war nun von einer "Arrestation zahlreicher Führer der Hitler-Jugend in 'zweifelhaften' Lokalen" die Rede.

Im Rahmen des Saar-Abstimmungskampfes war jedes Mittel recht. Die Phantasie der Emigranten kannte keine Grenzen. Und so vermeldete Heinz Pol in der Neuen Weltbühne schließlich das von der Volksstimme angekündigte "Blutbad". Die "Dezembermorde" sollten sich im Rahmen der Razzien vollzogen haben:

"Immerhin muß sich das deutsche Nachrichtenbüro jetzt schon zu einer Mitteilung bequemen, dass bei einer grossen sittlichen Säuberungsaktion im ganzen Reich rund siebenhundert Homosexuelle festgenommen wurden, darunter zahlreiche Mitglieder der Partei, der Hitlerjugend, SA- und SS-Leute. Der Führer habe das selbst verlangt; er wolle, dass mit diesen Schweinereien endlich aufgeräumt werde."

Ähnlich wie die Deutsche Freiheit, die die Existenz amtlicher Verlautbarungen aus Deutschland suggeriert hatte, berief sich Pol nun auf eine DNB-Meldung. Tatsächlich jedoch gab das DNB erst nach Erscheinen der Neuen Weltbühne eine Meldung über die Verhaftungen heraus. Pol erfand die Meldung, weil er so leichter mit dem beim "Röhm-Putsch" erprobten Heuchelei-Vorwurf operieren konnte:

"Den Leuten fällt auch nichts mehr ein! Die Homosexualitätsplatte wurde schon am dreißigsten Juni gespielt. Alle Welt lachte darüber, besonders mokant grinste die nähere und nächste Umgebung des Führers selbst. Wenn Herr Hitler alle Parteifunktionäre verhaften und erschiessen liesse, die für männliche Schönheit Verständnis haben, würden die Krematorien Deutschlands nicht ausreichen."

Die Strategie, die "nächste Umgebung des Führers" für homosexuell zu erklären, um angeblich offizielle Meldungen unglaubwürdig erscheinen zu lassen, war nichts neues. Neu allerdings waren Pols folgende Behauptungen:

"Die Zahl der Erschießungen seit Anfang Dezember ist vorläufig auch nicht annähernd zu übersehen. Von absolut glaubwürdiger deutscher Seite wird uns berichtet, dass bis zum fünfzehnten Dezember rund zweihundertdreissig SA- und SS-Führer sowie andere höhere Funktionäre der Partei erschossen worden sind. Unter ihnen befinden sich, ausser Brückner, der alte SA-Führer Heinz Hauenstein, einer der ältesten aktiven deutschen Fascisten, und Hauptmann a. D. Pfeffer, der Organisator der SA und Vorgänger Ernst Roehms."

Pol sprach hier nicht etwa von Ereignissen, die sich unabhängig von den Verhaftungen vollzogen haben sollten. Vielmehr behauptete er, von den 700 Verhafteten seien 230 erschossen worden: "Unter den zugestandenen siebenhundert 'Homosexuellen' befinden sich zweifellos auch die bereits exekutierten SA- und SS-Funktionäre." Die verkündeten Erschießungen jedoch waren ebenso wie die DNB-Meldung eine freie Erfindung. Das Schicksal der drei angeblich ermordeten Parteifunktionäre Brückner, Pfeffer und Hauenstein wirft ein bezeichnendes Licht auf die Qualität der 'absolut glaubwürdigen' Informationen Pols: Keiner von den dreien war ermordet worden. Bei den von Pol gemeldeten 230 Erschießungen handelte es sich um nichts anderes, als die skrupellose Umdeutung bereits verbreiteter Gerüchte in 'glaubwürdige' Informationen. Diese Umdeutung jedoch fiel auf einen bereiteten Boden: der erwartete "zweite dreissigste Juni" bedurfte keiner Belege mehr, sondern nur noch eines Verkünders auch seiner blutigen Komponente. Diese Aufgabe hatte Heinz Pol übernommen.

Die saarländischen Zeitungen General-Anzeiger und Volksstimme dankten es Pol. Mit groß aufgemachten Leitartikeln berichteten sie am 27. Dezember 1934 über die "neue Säuberungs-Aktion im Dritten Reich", und kolportierten Pols Behauptungen über "neue Massenmorde". Die beiden Artikel hatten einen so durchschlagenden publizistischen Erfolg, daß sich das nationalsozialistische Saarbrücker Abendblatt noch am gleichen Abend genötigt sah, mit der Dementierung der gemeldeten Erschießungen, die "regelrecht aus der Luft gegriffen" seien, die Verhaftungen Homosexueller zu bestätigen. Gleichwohl bemühte man sich, die Bedeutung der Aktion herunterzuspielen:

"Von den 300 Homosexuellen sind bereits bis zu Weihnachten 200 Personen wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Die übrigen hundert Mann mußten in Haft behalten werden, da Verdunkelungsgefahr besteht und die Untersuchungsbehörden gewillt sind, das Intrigenspiel restlos aufzudecken, das von dieser Clique seit geraumer Zeit betrieben wurde."

In der Logik der NS-Ideologie, von Hitler bereits nach der Ermordung Röhms vor dem Reichstag dargelegt, konnte "aus einer bestimmten gemeinsamen Veranlagung heraus" nicht nur "Intrigenspiel", sondern sogar der "Kern einer Verschwörung . . . gegen die staatliche Sicherheit" erwachsen. Insofern hatte die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung durchaus 'politischen' Charakter. Doch solche Überlegungen überforderten die Reflexionsmöglichkeiten der Exilpresse überforderte, wie die Reaktion des General-Anzeigers auf die Formulierung des Abendblattes zeigt:

"Daß in Wirklichkeit die Homosexualität mit dieser neuen Säuberungsaktion nicht das geringste zu tun hat, geht aus dem Satze der "Abendblatt"-Meldung hervor, daß die Untersuchungsbehörden das Intrigenspiel der betreffenden Nazis restlos aufdecken wollen. Das heißt mit anderen Worten, daß eine heimliche Opposition gegen den neuen, reaktionären Kurs der Nazipolitik besteht, den die alten Nationalsozialisten nicht mitmachen wollen."

Obgleich die Exilzeitungen die Bestätigung der Verhaftungen nicht zu Unrecht als von ihnen erzwungen feierten, wollten sie deren Inhalt nicht anerkennen. Doch die "Argumente" gingen ihnen aus. Neben der "Aeußerung vom Intrigenspiel" wurde von der Deutschen Freiheit abermals der angeblich hohe Verbreitungsgrad der Homosexualität unter Nationalsozialisten angeführt: "Alle Organisationen der NSDAP. von oben bis unten, einschließlich der Jugendorganisationen sind Brutnester der Homosexualität, wie sie nie vorher in der deutschen Geschichte sich entwickelt hatte."

Letztendlich wurde Homosexualität zum Kristallisationspunkt einer Auseinandersetzung, bei der die Frage nach Verhaftungen und Erschießungen nur noch eine Nebenrolle spielte. Hatten die Exilzeitungen bei der Thematisierung der Homosexualität bislang allerdings auf die negative Wirkung des Begriffes allein gesetzt, so wurde nun zunehmend mit Werturteilen operiert. So behauptete die Volksstimme, daß "die NSDAP. geradezu zur Bewegung der Homosexuellen geworden" sei und damit (!) "das deutsche Ansehen, den deutschen Namen und den deutschen Mann derartig in den Dreck" gezogen habe. Und weiter:

"Auch das 'Abendblatt' wagt nicht zu behaupten, daß sich die Homosexuellen aus anderen Kreisen rekrutieren. Es sind ausschließlich Pgs. [NSDAP-Parteigenossen], Führer und Unterführer aus der SA. und der SS. sowie die gesamte Führerschaft der Berliner Hitlerjugend. Kein Marxist, kein Anhänger des Zentrums befindet sich unter diesen zweifelhaften Menschen, die jetzt ausgerottet werden sollen."

Das Stereotyp war perfekt. Homosexualität und Nationalsozialismus waren in den Augen der Exilpresse identisch. Schwule Marxisten oder Demokraten? Unvorstellbar! Den Homosexuellen war das nationalsozialistische Gedankengut offensichtlich in die Wiege gelegt.


[1] Die Schweizer National-Zeitung verwechselte Arbeitsdienstlager mit Konzentrationslagern, in die ein beträchtlicher Teil der Verhafteten eingewiesen wurde. Den Redakteuren der Deutschen Freiheit allerdings wird Unterschied bekannt gewesen sein, denn Arbeitsdienstlager hatte die bündische Jugend in Deutschland schon seit 1926 errichtet. Sie nutzten das Versehen der National-Zeitung, um auf Wilhelm Reichs (1934 573) Theorien über die "Entwicklung homosexueller Neigungen und Beziehungen" in den Arbeitsdienstlagern anzuspielen.


© Alexander Zinn 2017